Chronically Online – Snowflakes im Sommer

von Kristina Kerber
Lesezeit: 5 min
Snowflakes fallen nicht nur im Winter von allen Wolken. Wer und was Chronically Online ist und wie man Schneeflöckchen vorm Schmelzen retten kann.

Seien es Anglizismen oder Wortfindungsstörungen – Begriffe aus dem englischsprachigen Raum werden herumgeworfen wie Geschütze: Der Lieblingsschauspieler wird Opfer der Cancel-Culture, das letzte Tinderdate outet sich als Red Flag und die ehemalige beste Freundin ist mittlerweile Lowkey Problematic. Ist jemand „Chronically Online“, verbringt die Person so viel Zeit online, dass es ihr Gefühl für Realität verzerrt und ihre Fähigkeit beeinträchtigt, effektiv über Themen wie Politik oder soziale Gerechtigkeit zu kommunizieren. Oft fehlen reale Erfahrungen und die Personen sind von einer algorithmischen Blase umgeben, die allein ihre Meinungen widerspiegelt und kaninchenbauartig immer weiter radikalisiert. Eine solche Person neigt dazu, wahrgenommen problematisches Verhalten bei jeder Gelegenheit anzusprechen und sich primär verbal dafür einzusetzen, dass dieses korrigiert wird. Klingt ja an sich nicht verwerflich, löblich sogar, jedoch liegt die Betonung auf wahrgenommen. Meist handelt es sich hierbei nämlich nicht um eines der unzähligen realen Problemen, sondern um Themen, die zu Problemen gemacht werden. Wer sich jetzt angesprochen fühlt, hat keinen Grund zur Verzweiflung – höchstens einen Grund zu einem radikalen Social-Media-Detox, oder zum Rausgehen und Gras-Anfassen.

Klingt jetzt erstmal etwas gemein. Aber es muss erneut betont werden, welche Themen in Internetchroniken aufgearbeitet werden. Man nehme sich Daisey Beaton als Beispiel, die letztes Jahr einen fatalen Fehler begangen hat. Nämlich hat sie mit dem großen bösen Wolf des Internets kommuniziert und ist in einen digitalen Schneesturm geraten. An jenem fatalen Oktobertag begab sie sich auf Twitter, spreizte die Finger und schrieb: „Mein Ehemann und ich wachen jeden Morgen auf, bringen unseren Kaffee in unseren Garten und setzen uns stundenlang hin und reden. Jeden Morgen. Es wird nie langweilig und uns gehen nie die Gesprächsthemen aus. Ich liebe ihn so sehr.”

Idyllisch? Nein! Diabolisch. Perfide. Bösartig. „Wer hat Zeit, stundenlang jeden Tag zu reden? Muss schön sein”, schreibt eine Frau. „Was ist, wenn wir nicht von Natur aus wohlhabend sind und arbeiten müssen und so?”, antwortete eine andere. Privilegierte Schnepfe, was hat die schon glücklich zu sein? „Nur eingebildetes, selbstzufriedenes Angeben. Dein Partner ist höchstwahrscheinlich von dem Tweet peinlich berührt, oder sollte es zumindest sein.” „Ich wache um 6 Uhr morgens auf, dusche und gehe zur Arbeit für eine Schicht, die mindestens 10 Stunden dauert. Das ist ein unerreichbares Ziel für die meisten Menschen.” (Auf letzteres übrigens eine Antwort, die das Ins-Fäustchen-Lachen deren Inspirationsquelle nur erahnen lässt. „Ich wache jeden Tag vollständig in Flammen auf und werde von Wölfen gefressen. Die Tatsache, dass dein Tweet meine Erfahrung nicht widerspiegelt, ist eine persönliche Beleidigung.”)

Ein weiteres Beispiel für einen Chronically Online Take ist, dass es behindertenfeindlich sei, während der Schwangerschaft mit dem Alkoholkonsum aufzuhören. Dies impliziere ja, kein Kind mit Behinderungen zu wollen. Ebenso Chronically Online: einige Fans der Indie-Rockerin Mitski. Diese hatte auf Twitter geschrieben, dass sie es bevorzugen würde, wenn ihre Fans sie nicht die ganze Zeit auf der Bühne filmen würden. Die Antwort der Fans? Sie ist ein schlechter Mensch, da diese Vorderung ja unsensibel gegenüber Menschen mit Gedächtnisproblemen sei.

Die Grenze zwischen Lachen, Kopfschütteln und einem Moment der Stille für den Untergang der ohnehin schon wankenden Offline-Gesellschaft verschwimmt immer mehr. Twitteruserin @jaynooch fasst die medizinische Symptomatik chronischer Internetverwendender zusammen: „Hallo, hier spricht die nervigste Person, der du jemals begegnet bist! Mir ist aufgefallen, dass dieser Beitrag, den du in drei Sekunden geschrieben hast, nicht mit jeder Erfahrung übereinstimmt, die ich jemals gemacht habe. Das ist extrem schädlich für mich, den Hauptcharakter des Universums.”

 

 

Selbstsprechend bedeutet das nicht, dass jede Thematisierung von Sexismus, Rassismus, Homophobie, Ableismus, Elitismus etc. grundsätzlich weinerlich und unbegründet ist. Oft ist es genau diese Annahme, die potentiell aus der zu großen Präsenz dieser Schneeflöckchen hervorgeht, die dann den echten und bedeutungsvollen Aktivismus schwächt oder gar aktiv schädigt. Unser kollektiver Konsum von Klatsch und Kontroversen hat viele dazu konditioniert, aktiv nach Inhalten zu suchen, die sie aufregen, und sich sofort an ihre extremste Interpretation zu klammern. Dadurch wird gerne ein fiktiver Strohmann erstellt, um eine bestimmte Art von gut hassbarer Person darzustellen, auf die dann projiziert und realer Dampf abgelassen werden kann.

Der Grat zwischen einem schlechten Tweet und einer Todesdrohung wird immer schmäler, so auch zwischen pseudo-problematischem Verhalten und einem legitimen Grund, für sein Gesagtes und seine Taten bestraft zu werden. Dass digitale Vergeltung verlautet wird, weil jemand Frühstückskaffee mit seinem Partner genießt oder kein ständiges Blitzlichtgewitter während des eigenen Konzertes abbekommen will, kommentiert einen Teilaspekt der Gefahren des digitalen Lebens: Wenn sich tausende tippende Finger berufen fühlen, ihre Idee von sozialer Gerechtigkeit walten zu lassen, und ein Prozentsatz dieser Reaktionen schon in der Kommentarsektion erwartet wird, stellt sich die Frage, wie weit die Normalisierung einer solch extremen Reaktion geht. Und vor allem auch, welche Auswirkungen dies nicht nur auf die digitalen Späher, sondern vor allem auch auf das alltägliche Leben fernab von blauen Vögelchen und wütenden Emojis hat.

Abschließend noch ein paar chronically online Takes zum Mitnehmen, weil Kopfschütteln auch eine Art sportlicher Freizeitbeschäftigung ist:

„Die jüngste Diskussion auf Twitter zwingt mich, Sie daran zu erinnern: Zuhause kochen ist rückständig, auf NIMBY ausgerichtet („nicht in meiner Nachbarschaft”), problematisch geschlechtsspezifisch und letztendlich ein Mittel zur Verfestigung bestehender Klassenstrukturen. Die Revolution wird nicht in Ihrer Küche vorbereitet werden; sie wird Ihnen in einem Restaurant serviert werden.” Genau, Kochen ist sexistisch, vive la révolution.

Und ein persönliches Highlight wird an dieser Stelle abschließend unkommentiert stehengelassen: Dass große Penisse als wünschenswert angesehen werden, ist nur ein weiteres Symptom westlicher Degeneration. Große Penisse sind ein Zeichen von geringer Intelligenz und wilden Genen. Kleine Penisse deuten auf hohe Intelligenz und aristokratisches Blut hin.”

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