„Wenn du nicht brav bist, holt dich der Zingerle“

von Pia Schorlemmer
Lesezeit: 7 min
Hinter dieser einstigen Erziehungsformel für widerspenstige Kinder verbirgt sich eine düstere Wahrheit: Guido Zingerle ging als das „Ungeheuer von Tirol“ in die Geschichte ein – als Schmuggler, Dieb, Vergewaltiger und Mörder.

Mit seinen Taten versetzt er während der 1940er und 50er Jahre ganz Österreich und Südtirol in Angst und Schrecken. Das Strafregister des im Jahr 1902 in Tschars geborenen Zingerle zählt eine Vielzahl an Delikten und Verbrechen. Schon in jungen Jahren begeht er Diebstähle, arbeitet als Schmuggler und desertiert unzählige Male, wofür er Ende des Zweiten Weltkrieges sogar zur Todesstrafe verurteilt wird. Diese wird jedoch aufgrund der Befreiung durch die Amerikaner nie vollzogen. Doch bereits davor beginnt ein schauriges Kapitel, das bis zum Jahr 1950 andauern soll: Die Vergewaltigung von sieben Frauen und zwei Morde. In seinem Buch „Der Frauenmörder Guido Zingerle: die Geschichte des Ungeheuers von Tirol“ gibt Journalist Artur Oberhofer einen Einblick in das Leben und die Psyche von einem der meist gefürchteten Verbrecher Tirols und lässt Originaldokumente dessen Geschichte erzählen.

 

Im Wald fürchte ich mich nicht. Im Stall beim Vieh war mir wohl und dort hatte ich auch keine Furcht.

 

Bereits im Alter von sechs Monaten gibt Zingerles Mutter ihn zu einer Bauernfamilie nach Vals. Sein Vater ist unbekannt. Seine Mutter verweigert ihm auch als Erwachsener den Kontakt. Der Pflegefamilie gibt er später die Schuld an seinen Taten. Grund dafür sei psychische und körperliche Gewalt, die er durch sie ertragen musste. So auch nach seiner ersten sexuellen Erfahrung im Alter von zehn Jahren, als er bei „Doktorspielen“ mit einer Gleichaltrigen im Wald erwischt wird, woraufhin ihn sein Pflegevater stark verprügelt. Die nachfolgenden Jahre trifft sich Zingerle immer wieder mit dem Mädchen – heimlich im Wald, in einer selbstgebauten Höhle. Doch nicht nur zuhause droht ihm Bestrafung. Auch in der Schule wird er von seinen Lehrern gemaßregelt und von den Mitschülern gehänselt. Im Militär ändert sich für ihn nichts, auch hier wird er schikaniert. Das Verhältnis zu Menschen beschreibt Zingerle später als schwierig: So hatte er nie einen wahren Freund und mied die Menschen. Die einzige Person, die er wirklich liebt, sei seine Tochter. Anstatt bei den Menschen hielt er sich lieber bei den Tieren im Stall oder im Wald auf, wo er auch des Öfteren nächtigte. Doch auch in der Nacht findet er keine Ruhe: Ihn plagen Alpträume, nächtliche Angstzustände, er ist Schlafwandler und Bettnässer.

 

In Guido Zingerle kämpft das ‘Es’ gegen das ‘Ich’

 

So beschreibt Journalist Artur Oberhofer den Verbrecher Guido Zingerle, der 1939 mitsamt seiner Frau und Tochter in seine Wahlheimat Innsbruck, in die Koflerstraße 17 in Pradl zieht. Zingerle wird 1947 zum ersten Mal aufgrund von Sexualverbrechen angeklagt. Bei den Klägerinnen handelt es sich um die Innsbruckerin Maria P. und Zingerles schwangere Arbeitskollegin Anna T. Beide soll er in einer von ihm ausgebauten und eingerichteten Höhle im Wald bei Mayrhofen mehrfach vergewaltigt und zum Oralverkehr gezwungen haben – sogar im Beisein von Anna T.s vierjähriger Tochter. Die Frauen sagen bei Ihrer Vernehmung aus, Zingerle sei nach seiner Tat zusammengebrochen, hätte geweint, sich selbst als „Schwein“, „Hund“ oder „Bestie“ bezeichnet.

 

Der Irrglaube und seine fatalen Folgen

In beiden Fällen schaffen es die Frauen, ihn zu beruhigen. Sie versprechen ihm, keine Anzeige zu erstatten, sodass er beide zurück nach Innsbruck begleitet und gehen lässt. Das Urteil gegen Zingerle fällt milde aus: Ein Jahr Gefängnis. Der Grund: Vor der Tat hatte er eine Affäre mit Maria P. und der Richter ist der Überzeugung, dass es bei Zingerle Spielräume für eine Besserung gäbe. Der Angeklagte muss jedoch nicht die volle Zeit absitzen. Seine Frau reicht ein Gnadengesuch beim Präsidenten des Oberlandesgerichts Innsbruck ein, mit Empfehlung von Alfons Kröß, dem Stadtpfarrer in Pradl. Diesem wird stattgegeben und Zingerle befindet sich auf freiem Fuß. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt: Zingerle hat bereits Jahre zuvor eine weitere Frau auf dem Spazierweg zwischen Igls und Innsbruck – unweit der Station Tantegert – vergewaltigt, eine frühere seiner Affären, Thea N., nahe der Igleralm am Patscherkofel vergewaltigt, eine 15-Jährige aus Karneid in den Wald geschleppt und vergewaltigt und die 20-jährige Lehrerin Geltrude Kutin aus Glaning in Südtirol vergewaltigt und lebendig unter 50kg-schweren Steinen begraben.

 

Die Tram-Station Tantegert

© Bernd Schorlemmer

Die Tram-Station Tantegert zwischen Igls und Innsbruck

 

Ein Geistesblitz bringt Licht ins Dunkel

Nach seiner Entlassung vergehen nur zwei Jahre bis Zingerle einen weiteren Mord begeht, der jedoch zugleich sein letzter sein soll. Auf einem Spazierweg am Patscherkofel überfällt Zingerle die aus Oxford stammende Touristin Helen Munro, die gemeinsam mit ihrer Mutter Urlaub in Tirol machen wollte. Er überfällt die Frau, schleppt sie ebenfalls in eine von ihm ausgebaute Höhle, vergewaltigt sie mehrfach und tötet sie mit einem Brecheisen, bevor er ihre Leiche schlussendlich mit Steinen bedeckt und vom Tatort verschwindet. Es dauert nicht lang, bis die verschwundene Helen Munro aufgefunden wird. Beim Anblick des Tatorts ereilt Revierinspektor Max Hatzl ein Geistesblitz: Diese Szene erinnert ihn an die Verbrechen in Mayrhofen. Schnell wird eine Alibi-Überprüfung Zingerles veranlasst, welcher sich jedoch bereits auf der Flucht in Richtung Südtirol befindet. Er hatte am Morgen die Täterbeschreibung im Radio gehört, die gleichsam sein Spiegelbild hätte sein können. Die Beamten zeigen seiner Frau Maria die am Tatort sichergestellten Kleidungsstücke, welche sie zum Teil als die ihres Mannes identifizieren kann.

 

© Sammlung Risch-Lau, Vorarlberger Landesbibliothek

Das Hotel Patscherkofel, in dem Helen Munro und ihre Mutter nächtigten

 

Er heiratet seine Frau wegen der Schwangerschaft. Sie ihn aus Mitleid.

Die Ehe zu Maria erfüllt Zingerle mit Frust. Er gibt später an, er hätte sich nie frei gefühlt mit ihr. Darüber hinaus hätten sie bereits 15 Jahre keinen Geschlechtsverkehr mehr gehabt: Nach der Entbindung sei sie frigide geworden. Seine Frau hingegen erklärt in einem späteren Verhör, er wäre nach seiner Rückkehr vom Militär aus Afrika mit einer Geschlechtskrankheit diagnostiziert worden. Der Arzt hätte gesagt, er dürfe nicht mehr mit ihr schlafen. Tatsächlich litt Zingerle mehrmals an Tripper. Seiner Frau zufolge hätte er beim Urinieren oft schrecklich geschrien. Sein Geschlechtsteil sei angeschwollen und blau verfärbt gewesen. Darüber hinaus sei ihr aufgefallen, dass ihr Mann nur an sehr heißen Tagen erregt war. Zingerle gibt später zu Protokoll, er habe sämtliche Bordelle Afrikas durchkreuzt und mit rund 500 Frauen verkehrt. Seinen Kameraden zufolge jedoch nicht nur mit Frauen, sondern ebenfalls mit „Araberjungen“.

 

Die Mörderpsychose in Österreich erreicht immer größere Ausmaße

 

Guido Zingerle befindet sich bereits seit fünf Wochen auf der Flucht, hält sich mit Diebstählen über Wasser. Ganz Österreich und Italien sucht nach dem Flüchtigen und es gehen hunderte Hinweise an die Polizei. Die „Neue Wiener Tageszeitung“ bringt es damals auf den Punkt: „Die Mörderpsychose in Österreich erreicht immer größere Ausmaße.“ Während die Bevölkerung in Angst und Schrecken ist, kehrt der Flüchtige sogar an den Tatort in Glaning zurück, an dem er die Lehrerin Geltrude Kutin ermordert hatte. Auch das Gedenkkreuz sieht er, spürt jedoch keine Schuld. Tage später begegnet Zingerle einem Beerensammler, der ihn kurz darauf erkennt und den Hinweis an die Carabinieri weiterleitet. Am 11. August 1950 wird Zingerle von fünf Carabinieri-Beamten in einer Heuhütte am Valser Joch auf etwa 2.000 Metern Meereshöhe überrascht und festgenommen.

 

Es ist alles vorbei, mein Leben ist jetzt vorbei.

 

Während die Beamten ihn ins Tal bringen, kommen sie am Lucknerhof in Vals vorbei. Dem Hof seiner Pflegeeltern. Brigadier Eugenio Olivotto fragt Zingerle, ob er sich an das Haus erinnern kann. Die Antwort: Seine Pflegeeltern tragen die Schuld an seinen Verbrechen. Die Nachricht über die Verhaftung Zingerles schlägt hohe Wellen und in kürzester Zeit versammelt sich eine Menschenmasse vor der Kaserne in Mühlbach, in der Zingerle untergebracht ist. Um dem Wunsch der Menge nachzugehen, einen Blick auf die „Bestie aus Tschars“ zu werfen, führt Olivotto den Häftling insgesamt vier Mal auf dem Balkon der Kaserne vor.

 

Schuldig der Verbrechen des Meuchelmordes, der Notzucht und des Diebstahls

Im November 1951 beginnt der Jahrhundertprozess an Guido Zingerle im Bozner Justizpalast. Der Angeklagte zeigt sich geständig, betont jedoch, dass seine Taten darauf zurückzuführen sind, dass er krank sei. Das Ergebnis des Prozesses: Zingerle wird in 18 von 19 Anklagepunkten für schuldig befunden. Er wird lediglich in einem Raubfall aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Für den Mord an Geltrude Kutin wird Zingerle zu lebenslanger Haft und für die übrigen Straftaten zu Freiheitsstrafen von insgesamt 81 Jahren und 8 Monaten verurteilt. Im Herbst 1953 wird ihm ebenfalls am Oberlandesgericht Innsbruck der Prozess gemacht. Das Urteil hier: Lebenslänglicher schwerer Kerker, verschärft durch ein hartes Lager vierteljährlich, sowie durch einen Fasttag und Dunkelhaft an jedem 2. Juli. Zingerle verbringt seine Haft bis zum 2. August 1962 in der Justizvollzugsanstalt Turi, wo er mit 59 Jahren an Leberkrebs stirbt.

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