Poesie trifft Persönlichkeit – Interview mit Siljarosa Schletterer

von Kristina Kerber
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Umrundet von Burgmauern und Picknickdecken trifft tiefgründige Gedichtkunst auf musikalische Lyrik. Siljarosa Schletterer, Gewinnerin des „Großen Literaturstipendiums des Landes Tirol“, und Singer-Songwriter Tom Joseph ziehen die Zuschauer im Hungerburgtheater in den Bann.

Inmitten des Hungerburgtheaters in Innsbruck finden sich Poesie- und Lyrikfans samt Picknickdecken und offenen Ohren ein, um Siljarosa Schletterer und Tom Joseph beim lyrischen Herzausschütten zu bestaunen. Umrundet von nahezu altertümlichen, efeuüberwachsenen Burgmauern fühlt man sich fast wie im antiken Kolosseum einer lang vergessenen Zeit. Nicht ganz im rasant stressigen 21. Jahrhundert, aber auch nicht in der verstaubten Vergangenheit. Einfach zeitlos, wie auch die lyrischen Früchte, die Siljarosa und Tom dem lyrikbegeisterten Publikum füttern, das sich am späten Nachmittag zum Kulturpicknick eingefunden hat. Eine Art mentale Reise also, die aber neben dem Besuch von zentralen Lebensgedanken der beiden Interpreten auch die Möglichkeit bietet, auf Selbstfindungsreise zu gehen, indem man sich selbst in den gesprochenen und gesungenen Worten wiederfindet. Beide sitzen ausgestattet mit Mikrofonen, Wasserflaschen, Skript beziehungsweise Akustikgitarre sowie buntgefächerten philosophisch-kreativen Gedanken, die kompakt in die jeweilige Lyrikkunst gewoben wurden, auf einer zentral-platzierten Bühne mitten auf der Wiese. Fast wie in eine luftdichte Blase gehüllt fühlt man sich im Schutz der Burgmauern, in der Kunst und Künstler verschmelzen und Raum für eine individuelle Erfahrung machen, in der die Gedanken zum Klang der Lyrik wandern wie die Wolken, die das gesamte Geschehen überblicken.

UNIpress: Hast du eine lyrische Stimme – quasi ein „separates Ich“ – oder werden deine Gedichte aus der Sicht deines privaten Selbst geschrieben?

Siljarosa Schletterer: Also ich würde eher sagen, man schlüpft als Autorin in verschiedene „lyrische Ichs“ hinein, die oft näher, oft weiter entfernt sein können von einem realen Ich, wenn es das überhaupt gibt.

UP: Gibt eine Trennung zwischen diesen lyrischen Figuren und dem eigenen Ich oder ist es ein fließender Übergang?

Schletterer: Es kommt ganz auf den Text an. Es gibt Gedichte mit starken autobiografischen Zügen, aber eben auch welche, bei dem der Text weiter von mir als Person entfernt ist. Literatur und Lyrik im Speziellen haben ja die wunderbare Fähigkeit, sich in andere Perspektiven hineinzuschreiben. Aber auch das kann Literatur sein: ein Sowohl-Als-Auch.

UP: Bist du eher eine „Fließschreiberin“, bei der die Worte nur so heraussprudeln, oder bis du eine Planerin, die eine Idee hat und dann so lang daran feilt, bis du zufrieden bist?

Schletterer: „Fließschreiberin“ ist eine schöne Bezeichnung! Das ist ein sehr komplexes Thema. Zum einen – denke ich – sollte man unterscheiden zwischen Schreiben als Therapie und Schreiben einer Veröffentlichung für andere. Die Gedichtentstehungsgeschichten sind sehr indivuell und zahlreich: Es gibt die Fälle, da trage ich Gedichte lange mit mir herum und gehe – man könnte sagen – „textschwanger“ durchs Leben – oft wochenlang oder monatelang, und dann irgendwann, wenn das Gedicht reif ist, ist es dann da. Es gibt aber – und das ist häufiger der Fall – die Arbeit in vielen Schichten, ein Erwachsen aus Notizen und das Reifwerden am Papier. Diese Prozesse sind den Gedichten qua Nomen schon eingeschrieben: Es ist das Verdichtete, die komprimierte Form von etwas sehr Großem. Und dieser Prozess kann bisweilen sehr lang dauern.

UP: Wie sieht dein Prozess beim Überarbeiten aus? Ist das für dich Teil des Schreibens oder gehst du dann von Künstlerin zur eigenen Kritikerstimme über?

Schletterer: Manchmal habe ich das Gefühl, es ist alles ein unendlicher Schreibprozess. Die zwei erwähnten Stimmen würde ich gar nicht so stark trennen: Natürlich gibt es einzelne zeitliche Abschnitte, aber alle gehören zum Schreiben dazu.  Auch das Überarbeiten hört nie ganz auf, manchmal ist es für mich, als wäre jede Lesung ein neuer Schliff. Und sei es nur insofern, dass das Gedicht neu gelesen wird, denn – um Heraklit heranzuziehen – „wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben“. So können wir auch nicht als gleiche Menschen ein und dasselbe Gedicht zweimal lesen bzw. dasselbe Gedicht gleich lesen.

UP: Gibt es dann auch einen Punkt, an dem du weißt, dass das Gedicht „fertig“ ist?

Schletterer: Dieser Punkt ist dann eher bei einem Auftritts- oder einem Veröffentlichungstermin, dann hat man einen Endpunkt beim Überarbeiten. Sehr oft habe ich das Gefühl, ein fertiges Gedicht gibt es gar nicht. Vielleicht soll es auch nie zu Ende geschrieben werden, vielleicht soll es mit uns mitwachsen.

UP: Wie würdest du deinen Schreibprozess beschreiben?

Schletterer: Ich bin ein Fan von allem Sinnlichen und Haptischen. Vielleicht ist es das Gefühl des Widerstands. Die allermeisten Gedichte sind jedenfalls in ihrer Erstform händisch entstanden. Und die Überarbeitung findet dann am PC statt.

UP: Wir haben vorher über Interpretation gesprochen. Wie ist es für dich, wenn Leute dich interpretieren?

Schletterer: Für mich darf es nie nur eine richtige Interpretation oder ein richtiges Bild geben. Ein Gedicht, das man mit 15 liest, ist nicht das Gleiche, das man mit 25 oder 50 liest. Bei jedem neuen Lesen entdeckt man noch eine Dimension mehr. Und das zeichnet gute Gedichte aus: die unendliche Vieldimensionalität. Dabei ist Lyrik dem Element des Wassers sehr ähnlich. Sie gelangen beide in alle Bereiche, können ständig ihre Form verändern, aber bleiben sich doch treu. Lyrik kann ein Meer sein. Ein Meer an Erfahrung und an Gefühl. Ob wir es analysieren oder nur berührt vor ihm stehen, bleibt uns überlassen. Aber Gründe brauchen wir keine, um ein Gedicht zu lieben. Es passiert ja auch äußerst selten, dass sich jemand erst nach einer Analyse verliebt. Ein Gedicht muss – so denke ich – ähnlich der Musik nicht in erster Linie kognitiv begriffen werden, aber gefühlt. Das verstehe ich auch ein wenig als eine Mission von mir – ich arbeite ja auch lyrikvermittelnd:  Wenn man diesen Standard mit Gedichten schaffen würde, dass man Gedichte wie Musik hört… das wäre schön!

UP: Hast du irgendwelche Tipps oder „Words of Wisdom“ für angehende Schreiber:innen?

Schletterer: Vielleicht: Bleibt eurer Sprache treu und lest unglaublich viel. Ich glaube, das sind die wichtigsten Punkte. Und vielleicht viel, sehr viel Vertrauen in jedes Wort und in die Zeit – dass irgendwann die Zeit kommt für das Gedicht.

Foto: Kristina Kerber

Mit anbahnendem abendlichem Kälteanbruch und stimmigem Abklingen von Akustikgitarre und Stimmbändern werden noch Karten für Siljarosas Projekt Angst wird Poesie verteilt, bei dem eingeladen wird, Ängste einzusenden, die dann zu Gedichten verarbeitet werden. Eine weitere Einladung ist eine Tasse Tee, die nicht nur zum Aufwärmen, sondern auch zum Rekapitulieren, Austauschen und Ausklingen dienen soll. Wie aus einer Trance erwacht erheben sich die Zuhörer:innen und lassen nach und nach die Burgmauern hinter sich. Die Worte aber wandern wie die Wolken – vom Ohr zum Herzen, wo sie sich mit Gefühlen und Gedanken mischen und einen Poesieabend zu einem fast spirituellen Erlebnis verdauen, bei dem man für zwei Stunden die Welt um sich herum vergessen kann und sie doch in gewisser Weise besser kennenlernt. Die eigenen Gedanken verpackt in den Worten anderer. „Kunst durch Kunst“, wie Siljarosa so schön sagt.

Wer dem geschriebenen Wort mit Skepsis gegenübersteht und sich lieber selbst von Siljarosa überzeugen will, kann sie am 21. Mai beim ersten Telfer Literaturfestival tabula rasa live erleben.

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