Der Beweis

von Fabian Bär
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Findet sich in der Bewegung der Welt der Beweis für die Existenz Gottes? Eine thomistische Spurensuche in der Tiroler Landeshauptstadt.

Das letzte statistische Quartalsblatt der Stadt Innsbruck weiß zu berichten: “Geburten und Sterbefälle bilden die beiden Pole dessen, was in der amtlichen Statistik ‘natürliche Bevölkerungsbewegung’ genannt wird.” Ein trocken wie poetisch-amtlicher Satz, in dem bei näherer Betrachtung alles Relevante steckt. Die Bewegung vom einen Punkt zum anderen ist nicht nur die Gesamtheit unseres Lebens, sondern auch ein metaphysisches Muster, das uns in der Überbrückungsperiode zwischen den beiden Polen Geburt und Sterbefall auch in Innsbruck häufiger begegnet – und zu religionsphilosophischem Brückenbauen in der Hauptstadt anregt.

Die Bewegung

Alles in der Welt und definitiv alles in Innsbruck scheint in Bewegung: Sowohl in der eingangs erwähnten „natürlichen Bevölkerungsbewegung“, als auch im Sinne des Wechsels von Aufenthaltsorten von Personen, Tieren, oder Sachen beschreiben. Die Innsbrucker Straßenbahnlinien 1, 2, 3, und 5 beförderten im Zeitraum von Juli bis September 2020 beispielsweise insgesamt 7 145 947 Personen, was einem Plus von exakt 105 402 beförderten Personen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum entspricht. Die beförderten Personen bewegten sich nun also in einem Straßenbahnwaggon, beispielsweise der Straßenbahnlinie 2, von der Josef-Kerschbaumer-Straße zur Technik (West); gleichzeitig wurden sie von ebenjenem Straßenbahnwaggon, in dem sie saßen, standen, oder lagen, selbst bewegt. Nun mag es zutreffen, dass eine Bewegung der beförderten Personen stattfand und sie sich aus den Tiefen Neurums in die Weiten der Au Höttings bewegt hatten, gleichwohl die von ihnen gewählte Form der Bewegung nicht die bewegungsreichste war – da sie zum Großteil sitzend ausgeführt werden konnte.

Was uns zur nächstmöglichen Bedeutung von „Bewegung“ führt – Bewegung als körperliche Aktivität. Wird „mehr Bewegung“ verschrieben, ist damit selten das Zurücklegen von Distanzen in Straßenbahnen gemeint, sondern sportliche Betätigung. Eine Form von Bewegung mittels öffentlicher Verkehrsmittel, die beide bisher angesprochenen Bedeutungsformen in sich vereint, ist beispielsweise das Innsbrucker Stadtrad, das im August 2020 insgesamt 20 296-mal ausgeliehen wurde und den Bewohnerinnen und Bewohnern Innsbrucks die Möglichkeit bietet, sich während ihrer Bewegung zwischen zwei Orten (mehr) zu bewegen.

Eine weitere Form von Bewegung liegt im Zurücklegen geistiger Distanzen. Im Zeitraum von Anfang Feber bis Ende Dezember 2020 bewegten sich insgesamt 875 Innsbruckerinnen und Innsbrucker auf verschiedene Arten und in variierenden Stufen der Bewegung in das Innsbrucker Stadtmagistrat, um aus der katholischen Kirche auszutreten. Die evangelische Kirche verließen im selben Zeitraum 92 Menschen. Die Bewegung der aus den Kirchen austretenden Personen hin zur Konfessionslosigkeit ist nun keine räumlich-physische Form von Bewegung mehr, sondern eine ideelle; sie ist Ausdruck der Veränderung einer gedanklichen statt einer örtlichen Position.

„Veränderung“ oder “Wandlung” ist schließlich zentral für die für diesen Text (und, in weiterer Folge, unser aller Leben) relevanteste Definition von „Bewegung“: die des verstorbenen griehischen Philosophen Aristoteles. In der aristotelischen Metaphysik wird mit „Bewegung“ die Veränderung im Allgemeinen bezeichnet, etwas „bewegt“ sich von einem Zustand in den nächsten. Der “Akt” ist der wirkliche, die “Potenz” der mögliche Zustand. Die aristotelische Bewegung ist Veränderung als Zusammenspiel von Wirklichem und Möglichem. Alles Seiende ist in seinem Sein und Werden nur die momentane Aktualisierung seiner Potenzen, die Indikativisierung seiner Konjunktive und die Verwirklichung seiner Möglichkeiten . Alles, was wir sind und alles, was wir kennen, ist der frühere oder jetzige tatsächliche, wirkliche Zustand von uns und allem, der wirklicher Einflüsse bedarf, um tatsächlich zu sein – und, um sich zu verändern, genauso wirklicher Einflüsse, die Möglichkeiten zu Wirklichkeiten werden lassen.

 

Alles Seiende in seinem Sein und Werden: Die Indikativisierung der Konjunktive

Eine potenzielle Rose im Hofgarten kann zu einer tatsächlichen Rose werden; dies bedarf aber nicht potenzieller, sondern tatsächlicher äußerer Einflüsse, wie tatsächlichem Wasser, tatsächlichem Dünger, und tatsächlicher Sonneneinstrahlung. Innsbruck hat das Potenzial, eine studierendenfreundliche Stadt zu sein, die Wirklichkeit sieht anders aus und bedarf wirklichen – und nicht nur möglichen – politischen Handelns, um sich zu ändern. Stattdessen wird fleißig an der Verwirklichung des dritten PEMA-Turms gearbeitet, dessen Möglichkeiten Raum für wirklich leistbares Wohnen leider nicht einschließen. Die Welt und alles in ihr Seinde: Für Aristoteliker ein Sammelsurium an unendlichen Möglichkeiten, die von Wirklichem verwirklicht werden. In Innsbruck wie in Hall wie in Imst wie in jeder Sekunde allen Daseins. Alles sich Verändernde ist dem Prozess der Veränderung unterworfen – der Verwirklichung von Möglichkeiten durch Wirklichkeiten.

Der Beweis

Wenn nun alles sich potenziell Wandelnde, alles potenziell Seiende eines tatsächlichen, wirklichen Einflusses bedarf, um seinen vergangenen, jetzigen, oder zukünftigen Zustand hervorzurufen, stehen geneigte aristotelische Metaphysizierende bei genauerer Betrachtung der Welt vor einer Frage, die sich geschickt auf mehrere aufteilen lässt: Was bewirkt den tatsächlichen Seinszustand nicht nur aller Aspekte der Stadt an der Brücke über den Inn, sondern des gesamten Universums anstelle deren möglichen Nichtseinszustands? Was verwirklicht die Existenz alles potenziell Nichtexistierendens, innerhalb wie außerhalb der Mauern Innsbrucks? Was den konstanten Wandel, der unser Sein durchzieht?

Diese und diesen Fragen stellte sich unter anderem der Philosoph Thomas von Aquin. Seine Gedankengänge dazu finden sich im ersten der „Fünf Wege“ zur Existenz Gottes wieder und lauten folgendermaßen: Empirische Betrachtungen der Welt zeigen uns, dass Bewegung existiert. Wir sehen das in der natürlichen Bevölkerungsbewegung der Stadt Innsbruck ebenso wie in jeder sich innerhalb und außerhalb der Stadtgrenzen stattfindenden Zustandsveränderung alles Seienden. Jede im Hofgarten wachsende Rose, jedes im Topf auf dem Herd der Studierenden-WG kochende Reiskorn, jeder diese Stadt einkettende Berg, alle Art von Zustandsveränderung bedarf eines anderen, tatsächlich existierenden, „Veränderers“. Alles sich in Bewegung befindende bedarf eines Bewegers.

Thomas von Aquin führt hier das Beispiel von Holz an, das, um von einem nicht-brennenden in einen brennenden Zustand versetzt zu werden, den Akt des Feuers benötigt. Durch rein potenzielles Feuer kann potenziell brennendes Holz, beispielsweise im Dachstuhl eines potenziell brennenden Hofgartenlokas nie tatsächlich brennen – dafür braucht es tatsächliches Feuer. Genauso kann das potenziell brennende Hofgartenlokal nicht von selbst zu einem tatsächlich brennendem Hofgartenlokal werden. Die Veränderungen der Welt benötigen eine Kette an Verändernden und Verändertem, eine Reihe von Akten, die als aktualisierte Potenzen die Potenzen anderer Akte aktualisieren. Diese Kette an Veränderungen kann nun nicht in die Unendlichkeit gehen – denn selbst eine unendliche Anzahl potenzieller Glieder bringt nur eine potenzielle Kette hervor, sie benötigt einen ersten Beweger, der selbst unbewegt – unverändert – ist.

Der unbewegte Beweger

Da erwiderte Gott dem Mose: Ich bin der Ich-bin. Dann sprach er:

So sollst du den Israeliten sagen: Der Ich-bin hat mich zu euch gesandt!

Ex 3:14

Dieser unbewegte Beweger, der selbst nicht in Bewegung ist, dem Zustandsveränderungsprozess nicht unterworfen, und dessen Einfluss alles Wirkliche bewirkt, kann selbst keine unverwirklichten Möglichkeiten aufweisen – da er sonst wiederum eines „unbewegteren“ Bewegers bedürfe. Der unbewegte Beweger ist durch Abwesenheit an unverwirklichten Möglichkeiten die reine Wirklichkeit. Diese Abwesenheit unverwirklichter Möglichkeiten wirft für sich auf aristotelisch-thomistischen Pfaden Wandelnden eine Reihe von Implikationen auf. Jemand, der den gesamten Inhalt aller Bücher der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol auswendig kann, hat trotzdem noch die unverwirklichte Möglichkeit, mehr Wissen haben zu können. Eine Abwesenheit unverwirklichter Möglichkeiten würde letzteres allerdings ausschließen – und sich beispielsweise in Allwissen äußern. Selbiges gilt für Macht: Georg Willi kann nicht der unbewegte Beweger sein – hat er doch die unverwirklichte Möglichkeit, mächtiger zu sein. Allmächtig ist der Innsbrucker Bürgermeister dagegen nicht.

 

Was verwirklicht die Existenz alles potenziell Nichtexistierendens, innerhalb wie außerhalb der Mauern Innsbrucks?

Bereits an den Andeutungen in diesen Attributen kann man vermuten, welcher geistigen Brücke es noch bedarf, um vom Marktplatz des „unbewegten Bewegers“ zur Höttinger Gasse „Gott“ zu kommen: Keiner, so lehrt uns Thomas von Aquin, da es sich genauer geantwortet um eine Definitionsfrage handelt. Im Klassischen Theismus wird „Gott“ wie der unbewegte Beweger als ontologisch erster Urgrund allen Seins definiert. Das klassisch-theistische Gottesbild ist religionsübergreifend zu finden und weist in jedem Pinselstrich Einflüsse auf und aus allen möglichen monotheistisch-religiösen Richtungen auf: Altgriechische Philosophen wie Platon und Aristoteles, jüdische Denker wie Moses Maimonides, katholische Mönche wie Thomas von Aquin oder muslimische Theologen wie Averroes sind wichtige Vertreter des Klassischen Theismus.

Der Gott des Klassischen Theismus ist nicht der größte aller Bäume im Hofgarten, oder der höchste Kirchturm in der Maria-Theresienstraße, sondern das Fundament, auf dem alle diese Dinge stehen. „Kein Seiender, sondern Sein selbst“, wie es der protestantische Existenzialist Paul Tillich formuliert. Der pure Akt, das reine Sein, die Abwesenheit aller unverwirklichten Möglichkeiten. Auch das Gottesbild der Bibel ist, so könnte man argumentieren, klar klassisch-theistisch. Die Frage nach dem Wesen Gottes wird von ihm selbst mit den vier hebräischen Buchstaben YHWH beantwortet – eine mögliche Übersetzung lautet „Ich bin der Ich-bin“. Die darin steckende Auflösung des Essenz-Existenz-Dichotoms, die Definition des Wesen Gottes als reines Sein fungiert als weitere Brücke zwischen altgriechischer Metaphysik und den christlichen Hintergründen, vor denen sich die natürliche Bevölkerungsbewegung der Stadt Innsbruck Jahr für Jahr vollzieht.

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