Ich habe heute geweint. Ich weine nicht oft, aber heute habe ich geweint. Ich habe mir das 15-Minuten-Video zu Corona von Joko & Klaas angesehen und konnte mich nicht mehr halten. Alle Frustration, jede Hoffnung, der ganze aufgestaute Hass der letzten zwei Jahre ist einfach an die Oberfläche gekommen. Ich bin mir bewusst geworden, wie verletzt ich mich fühle.
Die Politik der vergangenen Jahre war nichts als eine viel zu lange Comedy-Show und der Witz waren wir. Jede dämliche Kanzlerrede, jede einstudierte NLP-Drecksphrase und jede Lüge haben mich Stück für Stück lethargischer, zynischer und trauriger gemacht. Aber es war hilflose Trauer, so als würde man in einem Käfig aus Plexiglas sitzen, und alle, die draußen stehen, beleidigen einen und man kann absolut nichts dagegen tun. Und belogen zu werden, während man weiß, dass man belogen wird und gleichzeitig nichts dagegen tun zu können, ist die schlimmste Beleidigung überhaupt.
Am meisten habe ich bei der Rede von Olaf Scholz geheult, weil ich ihm geglaubt habe und das war vielleicht das erste Mal, dass ich einem Politiker – seitdem ich Politikwissenschaft studiert habe –irgendwas glaube, ohne die Lüge zu spüren, ohne das Kalkül zu vermuten.
Und jetzt?
Es drängen sich dem Leser und der Leserin an dieser Stelle wohl zwei berechtigte Fragen auf: Warum erzählt mir der Typ wann und warum er geheult hat? Und was hat das bitte mit Demokratie zu tun? Also:
Politiker sind keine Staatsleute mehr, wir respektieren sie nicht mehr, empfinden sie nicht mehr als Vertreter unserer Interessen, sondern vielmehr als Verkäufer. Der Unterschied zwischen einer Führungsperson, einem leader, und einem Verkäufer ist, dass wir immer merken, wenn uns etwas angedreht wird. Und da wir alle in einer Marketing- und Werbewelt aufgewachsen sind, ist uns auch bewusst, dass es in dieser Welt keine edlen Anliegen gibt und dass wir dem Verkäufer im Endeffekt vollkommen egal sind, denn er ist nur auf seinen eigenen Nutzen bedacht.
Politiker verkaufen ihre eigenen Interessen als die unsrigen. Sie sind zu abgehalfterten Werbefachleuten geworden, zu Verkäufern in eigener Sache, sie sind der Schatten einer der hellsten Momente der Menschheit, Schatten der Demokratie.
So ziemlich jeder Wahlkampf ist hässlich und deprimierend – ob es um die Präsidentschaftswahl in den USA oder die Nationalratswahl in Österreich geht. Je näher der Stichtag kommt, desto negativer wird das Ganze: öffentliche Diffamierungen, persönliche Angriffe weit unter der Gürtellinie, populistische Negativkampagnen auf allen Seiten. Verständlicherweise sind potenzielle Wähler davon angewidert. Sie werden zynisch, flüchten sich in die Apathie und gehen nicht zur Wahl. Die Mehrheit der Menschen, die sich schließlich zur Wahlurne schleppt, besteht dann in einem hohen Maße aus systemerhaltenden Konservativen oder Rechten. Eine niedrige Wahlbeteiligung ist also systemstabilisierend; sie spielt den Parteien, die bereits an der Macht sind, in die Karten.
Für Jungwähler wie uns Studierende heißt das faktisch: Wenn du von der Politik gelangweilt bist und lieber nach dem Saufen zuhause bleibst, anstatt am Sonntag wählen zu gehen, stärkst du das politische Establishment, sicherst du den Status quo. Die führenden politischen Parteien sind nicht dumm, auch wenn es manchmal so wirkt. Sie wissen, dass sie davon profitieren, wenn du am Wahltag angewidert zuhause bleibst und dir im Bett Youtube-Compilations reinziehst. Versteh mich nicht falsch: Es ist dein gutes Recht, daheim zu bleiben – aber rede dir nicht ein, dass du damit niemanden gewählt hast. Man kann nicht nicht wählen gehen. Wenn du selbst keine Stimme abgibst, gibst du sie her und lässt die Stimme eines anderen doppelt zählen. Und dieser andere ist meistens ein sechzigjähriger Sack, der ÖVP oder FPÖ wählt.
Die Zerstörung des Bürgers
Und jetzt, in dieser lustigen Pandemie, stehen die gleichen Politiker, die mit ihrem Handeln vielen Menschen ihr politisches und möglicherweise auch gesellschaftspolitisches Interesse genommen haben, ziemlich blöd da. Sie wundern sich über niedrige Impfquoten, sprechen von Eigenverantwortung und Bürgerpflicht, während sie unter tatkräftiger Mithilfe der Massenmedien genau den Bürger zerstört haben, den es jetzt bräuchte, um eine globale Notsituation in den Griff zu bekommen. Einen Bürger, der sich nicht nur seiner Rechte, sondern auch seiner Pflichten bewusst ist.
Bei der Nationalratswahl 2019 lag die Wahlbeteiligung bei etwa 75 Prozent, der zweitniedrigste Wert in der Geschichte der Zweiten Republik. Zwei Jahre später, Ende 2021, haben etwa 74 Prozent aller Österreicherinnen und Österreicher zumindest eine Corona-Impfung erhalten. Natürlich sind die Zahlen nicht vollkommen deckungsgleich, weil sich die wahlberechtigte Bevölkerung numerisch von der impffähigen unterscheidet. Dennoch ist die Zahl der Nichtwähler und die Zahl der Ungeimpften so ziemlich gleich groß. Ich persönlich würde meinen wertvollen Bachelorabschluss darauf verwetten, dass sich diese zwei Gruppen merkbar überschneiden.
Noch kurz stark bleiben
„Das Leben ist viel zu wichtig, um ernsthaft darüber zu reden.“ In diesem Oscar Wilde Zitat finden wir auch ein politisches Paradox: Es ist fast unmöglich, über wirklich wichtige Dinge zu sprechen, ohne klischeedurchtränkte Phrasen zu benutzen, bei denen einem einfach übel wird. Die meisten Reden und Ansprachen, Diskussionen und Vorträge von Politikern sind ein bisschen wie Til Schweiger Filme: Kennt man einen, kennt man sie alle und eigentlich hätte man auch darauf verzichten können. Die letzten Jahre waren eine Hardcore-Verarsche, in denen leeres, den Intellekt und das Herz beleidigende Gerede von einer politischen Notwendigkeit fast schon zu einer Kunstform avancierte. Trump ist hier das Musterbeispiel, aber wer öffentliche Auftritte von Kurz verfolgt hat, weiß was ich meine, wenn ich sage, dass mir nach zwei Minuten Zuhören zum Speiben zumute war.
Und dann kommt da ein deutscher Politiker, der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz, der in der Vergangenheit dafür kritisiert wurde, zu seriös zu sein, in eine Fernsehsendung und bringt mich zum Weinen. Es heißt ja, dass der Ton die Musik macht und nach so langer Fastenzeit hat mich diese Art zu reden – inhaltlich, sachlich und doch empathisch und aufrichtig – so mitgenommen, als würde meine vor Jahren entlaufene und vermutlich überfahrene Kindheitskatze plötzlich vor meiner Tür stehen. Ich muss ironiefrei sagen, dass mich die Wahrhaftigkeit in den Worten eines führenden Politikers zu Tränen gerührt hat. Das ist zwar sehr traurig, aber mindestens genauso schön.
Dieser Artikel erschien erstmals in der Jänner-Ausgabe 2022.