Während wir uns am Ende des zweiten Lockdowns befinden und uns in unserer Freiheit eingeschränkt fühlen, gibt es Menschen, die noch mehr unter der fehlenden, teilweise unterstützenden, Außenwelt leiden. Dazu gehören unter anderem die Kinder psychisch erkrankter Eltern. Ein wichtiger Anker liegt für diese Kinder oftmals in den regelmäßigen Strukturen des Kindergartens und der Schule. Diese Kontakte wirken regulierend auf das manchmal schwierige familiäre Umfeld ein. Wie wichtig ein helfendes Netzwerk für Kinder psychisch erkrankter Eltern und die Eltern selbst ist, zeigt das Forschungsprojekt Village, eine Kooperation der Ludwig Boltzmann Gesellschaft mit der Medizinischen Universität Innsbruck. Warum heißt das Projekt Village? Der Name weist gemäß einem afrikanischen Sprichwort darauf hin, dass man ein Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen.
Sag dem Dorf ruhig Bescheid!
Doch wie kommt das Dorf darauf, dass da Kinder sind, die Hilfe brauchen? Genau darum geht es. Es ist wichtig, dass man diese Kinder sieht und wahrnimmt. Das Netzwerk ist oftmals schon da, aber es muss erst noch aktiviert werden. Eltern mit psychischen Erkrankungen stehen momentan vor großen Herausforderungen. Oftmals traut man sich nicht, die so dringend benötigte Hilfe einzufordern. Der Bedarf an Unterstützung wird immer wichtiger. Die Zeiten sind instabil – dies wirkt sich auf die Psyche aus.
Mach dich sichtbar!
Auch Studierende haben mit den Hürden zu kämpfen. Jene, die die Last einer psychischen Erkrankung zu tragen haben und noch dazu für ein Kind sorgen, umso mehr. Adäquate Kommunikation, die Ängste vor dem Sichtbarwerden des Problems zu verlieren und es zuzulassen, dass ein bereits bestehendes Netzwerk helfend zur Seite steht, kann sich positiv auswirken. Im Zuge des Projekts wird erforscht, was die Kinder und Eltern als unterstützend wahrnehmen. Nur so können das Netzwerk und die damit verbundenen Prozesse nachhaltig wirken. Dieses Dorf kann jeder sein, eine Kindergarten-Pädagogin, ein Lehrer, eine Oma, die gerne mehr helfen möchte, die Nachbarschaft, die Aufgaben übernehmen kann.
Brüll, Löwe, brüll!
Kleine Gesten können eine große Wirkung haben. Und wenn die Angst überwiegt, dass andere etwas von der Situation mitbekommen könnten, die man als unangenehm empfindet, sollte man daran denken, dass das Umfeld meist ohnehin merkt, dass etwas nicht stimmt. Umso besser ist es, das Schweigen zu brechen und andere miteinzubeziehen. Jedes fünfte Kind lebt mit einem psychisch erkrankten Elternteil. Gemeinsam laut werden, den nach außen hin stark wirkenden “Löwenkindern” eine Stimme geben und dabei den Eltern helfen, ein bereits bestehendes Netzwerk zu erkennen und zu aktivieren – das ist das Ziel des Village-Projekts. Dr. Jean Paul, Sozialwissenschaftlerin und Leiterin des Projekts in Innsbruck, gibt einen kurzen Einblick in die Thematik.
UNIpress: Dr. Paul, beim Village-Projekt handelt es sich um ein wissenschaftliches Projekt. Was versteht man darunter?
Dr. Jean Paul: Das Forschungsprojekt Village zielt darauf ab, zu verstehen, wie wir die Identifikation von Menschen mit psychischen Erkrankungen und ihren Kindern verbessern können. Während unseres Projekts sammeln wir viele Informationen und Quellen, um dies besser zu verstehen. Wir fokussieren uns darauf, wie eine solche Unterstützung funktionieren könnte und welchen Nutzen sie für Kinder und Familien hätte. In unserer Arbeit mit Eltern und Kindern versuchen wir, ihnen dabei zu helfen, ein Netzwerk der Unterstützung abzuklären. Es gilt einen Plan für das Kind zu erstellen, der auf individuellen Bedürfnissen und Wünschen basiert. Als Forschungsprojekt hoffen wir zu verstehen, wie es gelingt, Familien zu stärken und ihre Coping-Strategien zu fördern. Durch dieses Wissen kann man anderen Familien in der Zukunft helfen.
UP: Zwischen Theorie und Praxis liegen manchmal Welten. Worin sehen Sie die größten Hürden des Village-Projekts?
JP: Das Projekt will unter anderem verstehen, wie wir den Schritt von der Theorie zur Praxis schaffen können. Von der Idee bis zur Implementierung und Anwendung am Patienten kann es normalerweise etwa 17 Jahre dauern. Es ist schwierig, dies in dieser kurzen Zeit zu erreichen. Daher liegt der Fokus auf der Implementierungswissenschaft, und wir versuchen, dies in kurzer Zeit zu etablieren.
UP: Wenn man auf der Website des Projekts nachliest, stößt man auf gewisse Einschlusskriterien. Dabei fällt auf, dass nicht alle Altersgruppen direkt in das Projekt miteinbezogen werden können. Wäre es für die Kinder unter 4 Jahren nicht auch wichtig, dass sie gehört werden? Gerade hier wird ja oftmals der Grundstein für die Entwicklung gelegt.
JP: Dafür gibt es streng genommen zwei Gründe. Erstens hat es mit der Evaluierung zu tun. Die Fragen, die entwickelt wurden, um die Veränderungen zu verstehen, die sich für Kinder während des Projekts ergeben würden, waren für noch jüngere Kinder nicht geeignet. Die Fragebögen enthalten zum Beispiel Fragen zum Freundeskreis oder zum Taschengeld usw. Dies ist für ältere Kinder gedacht. Für den Zeitraum von vier Jahren mussten wir Entscheidungen treffen. In den Praxisansätzen haben wir dies so ausgearbeitet, damit wir genau verstehen, was Kindern hilft. Bei Kindern unter vier Jahren bräuchte man noch mehr Einfühlungsvermögen. Es wären auch ganz andere Arbeitsmethoden mit den Eltern und Kindern bzw. Babys nötig. Dies wäre ein eigenes Projekt. Glücklicherweise gab uns der FWF die Chance, diese Möglichkeit ein wenig abzuklären. Für die Zukunft ist dies ein Thema, das wir hoffentlich noch besser erforschen können.
UP: Kann es sein, dass die Schwierigkeiten manchmal schon vor der Geburt des Kindes oder unmittelbar danach beginnen? Wie sehen sie, als Expertin, diese Entwicklung? Was raten Sie Müttern, die direkt nach der Geburt merken, dass es ihnen nicht gut geht. Ist das immer dieser sogenannte baby blues oder kann da mehr dahinterstecken?
JP: Postnatale Depression gehört zu einer Gruppe von psychischen Störungen, die als perinatale psychische Erkrankungen bezeichnet werden. Diese können vor der Geburt beginnen und noch zwei Jahre nach der Geburt andauern. Sie kann sowohl Männer als auch Frauen betreffen. Die Auswirkungen auf Säuglinge, aber auch auf ihre Eltern können enorm sein. Sie können für das Baby belastend sein und auch die Bindung erschweren. Postnatale Depressionen sind sehr häufig. Eine von fünf Frauen ist davon betroffen. Für Männer ist es schwieriger, Hilfe zu bekommen, weil das Stigma noch größer ist. Aber auch jeder zehnte Mann ist davon betroffen. Die Symptome treten oft erst später auf.
UP: Warum werden die Kinder, die einen psychisch erkrankten Elternteil haben, auch “Löwenkinder” genannt?
JP: Das Konzept der Löwenkinder stammt aus unserer Kompetenzgruppe und war Teil einer Sensibilisierungskampagne, die wir letztes Jahr in den sozialen Medien durchgeführt haben. Wir treffen uns einmal im Monat, und die Gruppe ist da, um uns zu beraten. Dabei geht es um Menschen, die diese Erfahrung bereits selbst gemacht haben. Sie sprechen aus ihrer Perspektive, mit einer psychischen Erkrankung in der Familie aufzuwachsen. Das hilft uns, sicherzustellen, dass unsere Forschung für Kinder angemessen und sensibel ist. Oft haben Kinder das Gefühl, dass sie über die Probleme, die es zu Hause gibt, schweigen müssen. Dies kann die Kinder stark unter Druck setzen. Es kann passieren, dass sie viele Aufgaben übernehmen müssen. Vom Kochen bis zum Wäschewaschen ist alles dabei. Nach außen hin sind die Kinder oft stark, sie tragen sozusagen ein Löwenkostüm.
UP: Was wünschen Sie sich für das Village-Projekt und was würden Sie jenen sagen, die diesen Artikel lesen und noch zögern, sich beim Projekt zu melden?
JP: Wir versuchen nicht, alles in Ordnung zu bringen, aber durch das Village-Projekt wollen wir dazu beitragen, die Perspektive der Kinder besser zu verstehen und zu analysieren, was für andere Familien in der Zukunft hilfreich sein könnte. Wir wollen die Fähigkeiten verbessern, mit der oftmals schwierigen Situation umzugehen. Es ist besser, nicht zu lange zu warten. Unterstützung in einem frühen Stadium ist sehr hilfreich. Es ist wichtig, dass die Kinder verstehen, dass sie eine Wahl haben. Sie können stark sein, wenn sie wollen, aber sie können das Löwenkostüm auch ausziehen und ein Kind sein, wie ihre Altersgenossen. Das dafür erforderliche Netzwerk zu verbessern und damit den Kindern eine glückliche Kindheit zu ermöglichen – dabei wollen wir helfen.
Wer kann am Village-Projekt teilnehmen? Familien mit Kindern von vier bis 18 Jahren mit einem Elternteil, der eine diagnostizierte psychische Erkrankung hat. Weitere unverbindliche Informationen gibt es bei Projektkoordinator Philipp Schöch unter der Telefonnummer 0676/5800490, bei Ihrem Arzt oder unter village.lbg.ac.at