Zwischen Göttinnen und Urinalen

von Katharina Isser
Lesezeit: 7 min
Wie schön muss Kunst sein? Verschiedene Strömungen, Epochen und Künstler:innen haben gänzlich andere Ansätze. Ein Spaziergang durch die Kunstgeschichte.

Was Kunst wirklich ist, weiß eigentlich niemand so genau. Es gibt keine allgemeine Antwort, keine elegante, schlanke Definition. Kunst ist alles, was wir als solche benennen. Sie ist im ständigen Wandel, gleichermaßen subjektiv und Ergebnis eines gesellschaftlichen Verhandlungsprozesses. Kunst ist Auslegungssache.

Für manche ist Kunst alles, was schön ist: die Wanddeko im Arztwartezimmer, das Gemälde aus dem Möbelhaus, die Statue im Gartenbeet. Für andere ist das alles nichts als gefällige, sinnbefreite Zierde, für die ignorante Masse produziert. In ihren Augen muss Kunst bewegen, berühren, weh tun. Oder höhere ästhetische Ansprüche erfüllen, technisch ausgeklügelt sein, universale Ideale verfolgen. Der Kunstbegriff kann fast beliebig eingeschränkt und ausgedehnt werden – zwischen Elitismus und Demokratie, Sinn und Sinnlosigkeit, Schönheit und Schmerz, Romantisierung und Anklage.

Für Andy Warhol, einen der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts, galt: „Art is what you can get away with.” Kunst stößt an gesellschaftliche Grenzen, übertritt sie und reißt sie nieder, und breitet sich selbst dabei so weit aus, dass sie kaum noch etwas zusammenhält.

Emanzipierte Perfektion

Während des Mittelalters war die Malerei vor allem auf religiöse Kontexte, wie Wandmalereien in Kirchen und Klöstern, beschränkt. Im religiösen Wert eines Werkes lag auch dessen Schönheit, eine naturgetreue Darstellung wurde nicht primär angestrebt. Die Urheber der Malereien waren Handwerker, die sich in den Werken kaum individuell verwirklichten und diese für gewöhnlich auch nicht signierten.

Mit der Renaissance kam es dann zu einer Emanzipation von Kunst und Künstler. Sie waren durch das aufstrebende Bürgertum, das Kunstwerke als Statussymbole sammelte, nun nicht mehr zwingend an Kirche und Adel als einzige Abnehmer gebunden. Kunst wurde zum Selbstzweck.

Die Malerei dieser Epoche orientierte sich an den Idealen der Antike, brachte aber auch ihre eigenen hervor: Die Renaissance-Künstler Raffael, Leonardo und Michelangelo standen mit ihrem ästhetischen und harmonischen Stil für das Erreichen eines allgemeinen Standards künstlerischer Perfektion. Idealisierte Proportionen, die Errungenschaft der Zentralperspektive und zunehmende Wirklichkeitstreue, die die abgebildeten Menschen als Individuen erkennbar macht, sind typisch für diese Zeit.

Bild: gemeinfrei, Wikimedia Commons

Die weichen Züge, die runden dunklen Augen und das üppige Gewand machen Raffaels „Verschleierte Frau“ (c. 1512-1515) zu einer Renaissance-Schönheit.

Bild: CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

Michelangelos Skulptur des biblischen Davids unmittelbar vor dessen Kampf mit Goliath wurde aus einem einzigen Block Marmor gehauen und gilt als Meisterwerk der Hochrenaissance.

Sind die Gemälde der Renaissance noch harmonisch und mitunter etwas statisch, löst der darauffolgende Barock mit dynamischen Kompositionen, starken Hell-Dunkel-Kontrasten und aufregenden Sujets beim Betrachten starke Emotionen aus. Schönheit bleibt jedoch eine maßgebliche Größe: Caravaggios Darstellung der Enthauptung des Holofernes ist dramatisch und brutal, aber nicht unschön. Und auch die hübsche Venus von Peter Paul Rubens (auf dem Cover unserer Mai/Juni-Ausgabe zu sehen) entstammt dem Barock. Die Malerei des an den Barock angrenzenden Rokoko wird dann überhaupt lieblich, idyllisch und dekorativ und stellt bewusst das süße, leichte Leben dar.

Bild: gemeinfrei, Wikimedia Commons

„Die Toilette der Venus“ von Peter Paul Rubens ist ein bedeutendes Gemälde des Barocks.

Der Stil der Akademischen Kunst verlangte schließlich die genaue Einhaltung aller formalen Kriterien, die an den Kunstakademien Europas gelehrt wurden. Extrem idealisiert und gleichzeitig nach der exakten Nachahmung der Realität strebend, sodass die Gemälde teilweise keinen Pinselstrich mehr erahnen lassen und fast einem Foto gleichen, stellt die Akademische Kunst die vielleicht höchsten ästhetischen Ansprüche. Ein Beispiel für ein Gemälde der Akademischen Kunst ist Alexandre Cabanels „Geburt der Venus“: Dort räkelt sich die wunderschöne Göttin der Liebe im Meeresschaum.

Eine neue Welt – eine neue Kunst

Kunst musste sich im Angesicht des menschlichen Fortschrittes immer schon verändern, anpassen und neuerfinden – beispielsweise hatte schon die Erfindung des Buchdrucks die Malerei maßgeblich beeinflusst. Die technische Errungenschaft der Fotografie stürzte sie dann gar in eine Sinnkrise: Wofür sollte man noch Wochen oder gar Monate im Atelier verbringen, wenn eine Fotografie eine (fast) exakte Replika der Wirklichkeit liefern konnte? Das Ideal der perfekten Wirklichkeitsnachahmung erübrigte sich damit praktisch.

Diese Erschütterung eröffnete allerdings auch neue Möglichkeiten. Die Kunst wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts freier. Der Impressionismus brach mit den strengen formalen Vorgaben der Kunstakademien und entwickelte einen frischen Ansatz. Die Maler:innen dieser Zeit ließen sich von der Fotografie inspirieren, grenzten sich aber auch von ihr ab: Anstatt die Wirklichkeit (idealisiert) zu reproduzieren, ließen sie das Kunstwerk in seiner Subjektivität erstarken.

Bild: gemeinfrei, Wikimedia Commons

Claude Monets „Impression, Sonnenaufgang“ aus dem Jahr 1872 war namensgebend für die Kunstrichtung des Impressionismus.

Schönheit, Wirklichkeitstreue und Gegenständlichkeit verloren mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend ihre Bedeutung. Expressionismus und Kubismus produzierten keine makellosen Frauenfiguren mehr, die graziös dem Meeresschaum entsteigen. Die Ästhetik dieser Zeit ist eine völlig andere und neue. Und auch die Sujets wandelten sich entsprechend der neuen Ära, die weltgeschichtlich angebrochen war, wie spätestens der Erste Weltkrieg deutlich machte. Ernst Ludwig Kirchners „Selbstbildnis als Soldat“ zeigt einen Mann mit vergilbter Haut, verzerrten Gesichtszügen und verstümmelter Hand. Ein solches Bild soll nicht mehr schön sein. Und muss es auch nicht.

Bild: gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner, der nach einem Nervenzusammenbruch vom Militärdienst im Ersten Weltkrieg beurlaubt wurde, stellte sich 1915 als verstümmelter Soldat dar. In der Realität war er noch im Besitz beider Hände.

Pissoirs und Gewalt

Vielleicht kein anderer steht so sehr für das neue Kunstverständnis des 20. Jahrhunderts wie Marcel Duchamp. Er nahm Alltagsobjekte wie einen Flaschentrockner und ein Pissoirbecken, signierte sie, ohne Weiteres an ihnen zu verändern, und erhob sie so zur Kunst. Allein durch die Auserwählung durch den Künstler, bei welcher Ästhetik keine Rolle spielen sollte, werde ein Objekt zur Kunst. Wenig überraschenderweise teilten damals die wenigsten Menschen diesen Kunstbegriff, und der Aufschrei war laut. Dennoch sind Duchamps „Ready-Mades“ ein Meilenstein der Kunstgeschichte, und bei einer Diskussion über die Natur von Kunst kommt man an ihnen nicht vorbei.

Bild: Isra Rulowsinsky, CC0, via Wikimedia Commons

Marcel Duchamp signierte ein handelsübliches Urinal und erhob es so zur modernen Kunst.

Auch Performance-Art hat nicht zum Ziel, schön anzusehen zu sein. Eher im Gegenteil: Marina Abramovićs „Rhythm 0“ zeigte auf, zu welchen schrecklichen Taten Menschen fähig sind, wenn ihnen die komplette Kontrolle über einen anderen gegeben wird. Die Künstlerin versprach, sechs Stunden lang alles ruhig über sich ergehen zu lassen, was das Publikum mit ihr machen wollte. Dabei wurde den Zuschauer:innen unter anderem eine Feder, ein Skalpell und eine geladene Pistole zur Verfügung gestellt. Es kam zu mehreren sexuellen Übergriffen, Abramović wurden Schnittwunden zugefügt. Am Ende wurde ihr der geladene Revolver an den Kopf gedrückt, woraufhin Unruhe und Streit unter den Zuschauer:innen ausbrach. Als die sechs Stunden verstrichen waren, und die Künstlerin sich wieder zu bewegen begann, habe ihr das Publikum nach eigenen Aussagen nicht mehr in die Augen sehen können.

Schön war „Rhythm 0“ also nicht. Aber eindeutig Kunst.

Was kommt ins Schlafzimmer, was in den Louvre?

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Kunst und deren Verhältnis zu Schönheit stark gewandelt. Wurden Figuren einst stark idealisiert und Kompositionen strikt nach dem Goldenen Schnitt entworfen, war Schönheit für viele Künstler:innen der Moderne kein oder nur mehr ein untergeordneter Faktor. Aber natürlich bleibt auch hier Geschmack subjektiv: Man kann einen Picasso schöner finden als einen Cabanel, und manche Menschen hängen sich lieber die verzerrten Figuren des Expressionismus ins Schlafzimmer als die perfekten Menschen der italienischen Altmeister.

Kunst kann schön sein, aber sie muss nicht. Nicht jedes hübsche Postkartenmotiv ist reif für den Louvre, aber genauso wenig qualifizieren blinde Provokation und wahllose Grausigkeiten. Die Grenzen der Kunst sind fließend, und sie wird immer gesellschaftliches Streitthema sein. Im Endeffekt ist Kunst ein Selektionsprozess: Was schließen wir ein, was aus? Wie bestimmen wir, wer die großen Meister und welche die großen Meisterwerke sind? Was ist Kunst, und was kann weg? Dafür gibt es keine objektiven Kriterien. Und manchmal sind Künstler:innen und deren Werke einfach bedeutsam, weil sie die ersten waren, die Kunst anders gedacht und gesehen haben.

 

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