In den 1970er-Jahren verwendete die Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey den Begriff des „Male Gaze“ erstmals. Seitdem wird der Ausdruck inflationär verwendet, besonders in den sozialen Medien. Heutzutage geschieht das nicht nur im Kontext einer Filmanalyse, sondern auch in Beschreibungen von Alltäglichem.
Das Konzept des „Male Gaze“ und seine Antwort, die Theorie des „Female Gaze“, stützen sich auf ein binäres Geschlechtermodell. Manche Menschen lehnen die Begriffe daher ab. Die Theorien ließen keinen Platz für Menschen, die sich weder als männlich noch als weiblich identifizieren. Dass das Konzept auf Generalisierungen und Vereinfachungen beruhen würde, merkte Laura Mulvey schon bei der Verfassung ihrer Schrift „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ an. Allgemein bleibt anzumerken, dass es viele verschiedene „Gazes“, also Blickwinkel und Sichtweisen, gibt. Sie sind einander nicht unter- oder überlegen – sie unterscheiden sich nur.
Der Male Gaze
Film an. Zu sehen ist eine Frau mit perfektem Körper, stets in knappen Outfits gekleidet. Sie schraubt an Autos und scheut sich nicht davor, es ihrem Mann zwischen Kochen und Abspülen, ohne lang zu meckern, so richtig zu besorgen. Das ist sie. Die perfekte Frau, in den Augen eines Mannes halt. Sie existiert nur, um das Leben des Mannes so angenehm wie möglich zu machen. Das will man(n) sehen, so will man(n) es haben. A woman written by a man, eben.
Diesen männlichen Blick, fachsprachlich „Male Gaze“ genannt, findet man nicht selten in der Bücher- und Filmwelt. Innerhalb der feministischen Filmtheorie wird der Begriff des „Male Gaze” verwendet, um die Sichtweise eines männlichen, heterosexuellen Betrachters auf Frauen zu beschreiben, also die Herangehensweise des Regisseurs oder des Autors.
Der Begriff an sich entsprang der Filmtheorie der 1970 Jahre. „Gaze“, englisch für „Blick“, als alleinstehender Begriff soll beschreiben, wie Zuschauer:innen visuelle Medien empfinden. Der „Male Gaze“ ist also ein männlicher, sexualisierter Blick, der weibliche Protagonistinnen stark objektiviert. Ob Megan Fox in Transformers, Harley Quinn in Suicide Squad oder die Bond-Girls, Frauen sind oft nur aus ästhetischen Gründen Teil eines Films, während der Mann, der Macher und das Alphatier, mal eben so die Welt rettet.
Eine solche Objektifizierung bringt den negativen Effekt mit sich, dass Zuschauer:innen unbewusst diesen Blick übernehmen und zu Objektbetrachter:innen werden. In vielen Fällen werden Frauen in unserer Gesellschaft auf ihr äußeres Erscheinungsbild reduziert, was dazu führt, dass ihre menschlichen Eigenschaften nicht ausreichend gewürdigt werden. Sie existieren nur, um der Männerwelt zu gefallen. Derartige Objektifizierungen in Film, Serie und Buch tun den Frauen keinen Gefallen, im Gegenteil. Sie bestärken nur ein misogynes Weltbild, das auch heute noch viele Menschen verinnerlicht haben.
Picassos Blicke
Die Darstellung einer Frau durch den Blick eines Mannes kann man nicht nur in Film und Literatur, sondern auch in der Kunst beobachten. Pablo Picasso, der Frauen auf der Straße mit seinen Augen förmlich durchdrang, war bekannt für seinen Blick auf Frauen und dafür, wie er diese in seiner Kunst darstellte.
Picassos Gemälde zeugen von einer einzigartigen Beobachtung, wie seine zahlreichen Liebesbeziehungen ihn dazu anregten, verschiedene Stilrichtungen aufzugreifen. Oft wird darauf hingewiesen, dass Picassos Verwendung dieser unterschiedlichen Stile eine völlig neue künstlerische Darstellung der Frau hervorgebracht hat. Seine Frauen waren seine Musen, nicht selten wurde ihm nachgesagt, er würde Frauen nur lieben, um einen Grund zum Malen zu haben. Ein Kunstwerk veranschaulicht dies deutlich. In „Les Demoiselles d’Avignon“ malte Picasso fünf Frauen in einem Bordell, deren Körper sehr eckig und kantig dargestellt sind. Das Bild sorgte damals für kritische Reaktionen. Auch aus heutiger Sicht bleibt es ein kontrovers diskutiertes Gemälde. Es scheint so, als würden sich die fünf nackten Frauen ihren Betrachter förmlich anbieten. Dies ist aber auch nur eine mögliche Interpretation des Kunstwerkes.
Der Male Gaze, der sich wie ein Schleier über die Film-, Kunst- und Literaturlandschaft legt, ist in Wahrheit oftmals eine trügerische Linse, die unser Weltbild verzerrt. Dabei bleibt die Vielfalt der Frauen verborgen, während die Rolle des männlichen Protagonisten auf ein Podest gestellt wird, was an veraltete Machtstrukturen erinnert. Jeder klischeehafte Schnitt und jede stereotype Beschreibung verfestigt ein Narrativ einer Gesellschaft, in der Frauen als nichts anderes wahrgenommen werden als ein beachtliches Schmuckstück.
Der Female Gaze
Der Female Gaze beschreibt den weiblichen Blick. Die Filmtheorie definiert ihn zum einen als die Erzählweise einer Filmemacherin. Ihr Frausein beeinflusse dabei ihre Arbeit. Das Geschlecht beziehungsweise die Geschlechtsidentität der Filmfiguren spielt keine Rolle: Auch die Betrachtung einer männlichen Figur kann Aspekte des Female Gaze beinhalten. Andererseits beschreibt der Female Gaze das subjektive Erfahren einer weiblichen Filmfigur. Ein Female-Gaze-Film zeigt: Das bedeutet es, als Frau in unserer Gesellschaft zu leben. Auch in den sozialen Medien wird das Konzept aufgegriffen. Dort kleidet man sich für den Female Gaze, also um Frauen statt Männern zu gefallen.
Die Regisseurin und Autorin Joey Salloway, die maßgeblich zur Definition des Konzepts rund um den Female Gaze beigetragen hat, betont jedoch eines: Der Female Gaze beschreibe nicht die bloße Umkehrung des Male Gaze. Somit befürworte er nicht die Objektifizierung von Männern, sonders spreche sich lediglich für einen tiefgehenden Blick auf die Lebensrealitäten von Frauen aus. Die auf TikTok groß gewordene Bezeichnung „Men written by a woman“ zeigt außerdem beispielhaft, dass besonders männliche Film- und Buch-Charaktere nicht zwangsläufig von einer weiblichen Perspektive profitieren. Männliche Charaktere „written by a woman“ sind oft weiß und niemals dick. Sie sind immer groß, schlau und charmant, sie zitieren hin und wieder eine feministische Theorie, bezahlen den Kaffee ihrer Partnerin, halten ihr die Tür auf und sie dennoch für gleichwertig. Die amerikanische Autorin Colleen Hoover geht noch weiter: Die männlichen Love-Interests in ihren Büchern sind eifersüchtig, besitzergreifend, dominant und manipulativ – aber dabei natürlich unfassbar heiß. Die Beziehung zwischen der weiblichen Hauptfigur und dem männlichen Love-Interest wird dabei als stark und „empowering“ dargestellt. Colleen Hoover wird vorgeworfen, ihr Schreiben sei stark durch internalisierte Misogynie gekennzeichnet, und damit das Gegenteil von feministisch.
Diskriminierung, Wut und kleine Feuer überall
Das schicke amerikanische Vorstadt-Haus der Familie Richardson brennt. Verursacht haben das Feuer viele kleine Flammen. Die Mutter der Familie, Elena Richardson, nimmt die Schuld auf sich: Sie habe das Feuer gelegt. Von Beginn an stellt sich die Frage: Wie konnte es so weit kommen?
Die Serie „Kleine Feuer überall“ erschien im Jahr 2020 auf der Streaming-Plattform Hulu und handelt von zwei Familien in den 1980er-Jahren in den USA. An der Erstellung des Skripts und der Produktion waren fast ausschließlich Frauen beteiligt. In der Serie nehmen die männlichen Charaktere kaum Einfluss auf das Geschehen, statt ihnen handeln die Frauen. Die beiden Familien, auf die sich die Handlung konzentriert, sind das Produkt der unermüdlichen Bemühungen der jeweiligen Mutter. Besonders deutlich wird das in dem Kalender der Vorzeige-Mutter Elena Richardson: Unzählige Post-Its in verschiedenen Farben weisen auf Verpflichtungen und Verantwortungen hin. Dieser Kalender wird konstant von ihrer Familie belächelt, vor allem von ihrem Ehemann. Bill Richardson hält sich aus dem Leben seiner Frau, ihren Problemen und Sorgen, weitestgehend zurück. „Kleine Feuer überall“ ist dahingehend einzigartig, dass Elenas Bemühungen, ihren Verpflichtungen nachzukommen, nicht belächelt, sondern respektvoll betrachtet werden.
Männer als Statisten
Besonderen Wert legt die Serie auf die Beziehungen zwischen den Frauen. Mia Warren ist die Mutter der anderen Familie. Als Elena Richardson sie als ihre Haushälterin einstellt, entsteht zwischen ihnen ein ungleiches Machtverhältnis. Elena ignoriert dieses, genauso wie die Tatsache, dass Mia eine schwarze Frau ist. Für sie spiele die Hautfarbe einer Person keine Rolle, sagt Elena – dass sie Martin Luther King bewundert, bringt sie in Anwesenheit schwarzer Menschen dennoch pausenlos zur Sprache. Mia bringt Elenas Versuche, dieses ungleiche Machtverhältnis zu ignorieren, in einem Gespräch wutentbrannt zur Sprache: „Warum möchten alle immer mit ihrem Dienstmädchen befreundet sein?“
Die Wut der Frauen spielt eine zentrale Rolle in der Serie. Dies ist interessant, da wütende Frauen oft als unweiblich wahrgenommen oder als hysterisch abgetan werden. In der Serie sind die Frauen wütend aufeinander, aber auch über Dinge wie Sexismus, Rassismus, gesellschaftliche Normen und den Mythos, als Frau in den 1980er-Jahren eine freie Wahl zu haben. In einem Zeitsprung sehen wir Elena, die durch eine Abtreibung die Geburt ihres vierten Kinders verhindern will. „Leute wie wir machen so etwas nicht“, sagt ihre Mutter, und Elena gebärt das Kind.
Die Bildsprache der Serie ist ruhig, der Blick geduldig. Die Kamera lässt sich Zeit, aber nicht, um die Handlung mit überflüssigem Zoomen auf weibliche Körperstellen aufzuhalten. Stattdessen zeigt sich der weibliche Blick in „Kleine Feuer überall“ durch einen Sinn für Details und für den Rhythmus sowie die Muster des Lebens einer Frau in den 1980er-Jahren: Man spürt die Frau im Raum.