Noah Jenewein ist ein schlanker Mann mit Brille und kurzen braunen Haaren, der mit einem Lächeln auf den Lippen freundlich wirkt. Der Student führt mich durch das alte Gebäude der theologischen Fakultät am Karl-Rahner-Platz über eine Art Innenhof in das Büro der Fakultätsvertretung Theologie. Der Raum ist klein, aber sehr gemütlich, mit vielen Postern an den Wänden. Ich setze mich auf ein bequemes Sofa ihm gegenüber: Der 22-Jährige studiert Fachtheologie und christliche Philosophie und engagiert sich seit seinem zweiten Semester mit rund fünf anderen bei der Studierendeninitiative Kreuz und Queer*. Es ist also eine recht kleine Studierendeninitiative. Auch die theologische Fakultät ist eine der kleineren Fakultäten, weshalb deren Themen oft nicht so präsent sind. So kann es schon mal sein, dass Fragen aufkommen wie „Willst du mal Priester werden?“, obwohl Theologiestudierenden unzählige Türen neben dem Priesteramt offen stehen.

Das Gebäude der Theologischen Fakultät. Bild: Laura Wallner
Ich treffe mich heute mit Noah Jenewein, um darüber zu sprechen, in welchen Punkten die Kirche der Realität hinterherhinkt und warum sich deswegen viele, vor allem junge Menschen, abwenden. In der Vergangenheit häuften sich Aktionen wie die Initiative „Out in Church“, bei der sich 125 Bedienstete der Katholischen Kirche öffentlich als homosexuell oder queer geoutet haben. Bei einer Ministrant:innenwallfahrt in Rom haben deutsche Messdienende dem Kardinal im Gottesdienst den Rücken zugewandt und Regenbogenflaggen hochgehalten. In Österreich wurde ein Fragebogen erstellt, wo Laien Tacheles reden konnten, es wurden Regenbogenflaggen an der Vorarlberger Kirche gehisst – und abgefackelt. Auch in Innsbruck wurden Regenbogenflaggen vor der Kirche am Karl-Rahner-Platz im Rahmen der Aktionstage von Kreuz und Queer* aufgestellt.
Warum häufen sich solche Aktionen? Das hat verschiedene Gründe. Einer davon ist der weltweite, von Papst Franziskus 2021 angestoßene synodale Prozess. Das Wort Synodalität kommt aus dem Griechischen und heißt wörtlich übersetzt so viel wie „gemeinsam einen Weg gehen“. Die Katholische Presseagentur Österreich schreibt, Papst Franziskus nenne als Ziel des synodalen Prozesses, „aufeinander und auf den Heiligen Geist zu hören” – es geht also darum, sich auszutauschen und sich zu beraten, wie man Gemeinschaft lebt und Teilhabe umsetzt, um die Kirche zukunftsfähig zu machen. Bei der Umsetzung geht jedes Land einen anderen Weg.
Österreich und Deutschland nicht ganz einig
In Österreich bezieht sich der synodale Prozess auf die Beteiligung von Laien. Um deren Teilhabe zu reflektieren und zu erhöhen, erarbeiteten die Diözesen Fragebögen, die anschließend ausgewertet und vergangenen September präsentiert wurden. Dabei wurde die katholische Bevölkerung zu den Themen Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung befragt. In der Diözese Innsbruck haben daran rund 2.000 Personen teilgenommen, darunter 183 Personen im Alter von 15 bis 30 Jahren.

183 Personen im Alter von 15 bis 30 haben der Kirche ihre Meinung gesagt. Grafik: Synthese der Diözese Innsbruck
In Deutschland wird die strukturierte Debatte „synodaler Weg“ genannt, wobei verschiedene Synodalforen ins Leben gerufen wurden, um die Missbrauchsskandale aufzuarbeiten und ins Gespräch zu kommen. Dabei sind die Themen Macht und Gewaltenteilung, priesterliche Existenz, Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche und Sexualität und Partnerschaft zentral. In diesen Foren diskutieren Laien sowie Kleriker.
Darf man gleichgeschlechtliche Verbindungen segnen?
Mit den Themen Sexualität und Partnerschaft befasst sich auch Kreuz und Queer* – wenn auch nicht aufgrund des synodalen Prozesses. Die Gruppe gibt es, seitdem die Antwort des Responsum ad dubiums des Dikasteriums für die Glaubenslehre auf die Frage „Darf man gleichgeschlechtliche Verbindungen segnen?“ „Nein“ hieß. Das war der Moment, in dem sich eine Handvoll Studierender im Frühjahr 2023 zusammengeschlossen haben, um sich mehr damit auseinanderzusetzen, erzählt Noah im Tiroler Dialekt. Somit war die Gruppe Kreuz und Queer* ins Leben gerufen. „Unser Anspruch ist, uns wissenschaftlich mit dem Thema zu beschäftigen, wir sind keine aktivistische Gruppe, die auf Kirchtürme klettert und Regenbogenfahnen hisst“, sagt Noah, der mir auf einem Bürostuhl gegenübersitzt, überzeugt.
Trotzdem waren sie mit einer Regenbogenflagge vor der Kirche am Karl-Rahner-Platz bei den Aktionstagen anzutreffen. „Dort waren wir einfach Ansprechpartner für interessierte Menschen, die vorbeigingen“, meint Noah und räumt auf: „Man hat oft ein schlechteres Bild von der Gesellschaft, als es dann letztendlich ist. Es gab die ein oder andere negative Reaktion, aber wir haben auch viele positive Reaktionen gespürt – der Zuspruch ist größer als der Gegenwind.“ Er empfinde den Glauben als etwas, das den Menschen bestärke und ihm helfe. Deshalb sei es nicht in Ordnung, wenn ein Mann, der einen Mann liebt, oder eine Frau, die eine Frau liebt, zu hören bekommen, dass das eine Sünde sei.
Brückenbauen ist angesagt
„Auf kirchlicher Seite besteht die Angst, wenn jemand sein Geschlecht ändern will, dass sich die Menschen alle zwei Wochen umentscheiden“, lacht Noah. Niemand mache freiwillig eine Transition durch, niemand nehme freiwillig Hormone, niemand lasse gerne Operationen über sich ergehen. Für einen kurzen Realitätscheck sagt Noah: „Ein immer kleinerer Teil der Gesellschaft ist Teil der katholischen Kirche – und trotzdem gibt es keine Anzeichen, dass Chaos herrsche, nix funktioniere oder keiner mehr wisse, ob er Frau oder Mann ist.“
Diese Kluft zwischen Realität und Kirche ist der Grund, warum sich viele abwenden und sogar den Austritt wagen, sei es, weil sie selbst queer sind oder weil sie sich solidarisch zu Freund:innen verhalten. Was in der Gesellschaft schon total normal ist, ist es in der Kirche noch nicht. „Dieser Umgang mit gleichgeschlechtlich liebenden Personen schreckt viele ab“, sagt Noah nachdenklich und rollt mit dem Bürostuhl ein wenig von links nach rechts. Ihn jedoch nicht, er ist im Glauben verwurzelt und will von innen heraus etwas anstoßen. „Wenn es um Toleranz und Akzeptanz geht, gibt es keinen besseren gemeinsamen Nenner als Jesus“, weiß der 22-jährige aus eigener Erfahrung. Trotzdem meint Noah: „Es wäre sehr gut, wenn sich die Kirche wertschätzend mit diesen Themen auseinandersetzt.“
Queer und katholisch: ein Widerspruch?
Kreuz und Queer*, also Kirche und Homosexualität, ist kein Widerspruch in sich. „In der Kirche geht es um die Schöpfung Gottes – da gehören queere Menschen nun mal genauso dazu wie heterosexuelle Menschen“, sagt Noah klipp und klar. „Wir wollen erreichen, dass sich die Kirche auch mit diesem Thema befasst.“ Die Studierendeninitiative hat es sich zur Aufgabe gemacht, anderen Mut zu machen, da gläubig und queer sein für viele ein Konflikt ist. Dadurch fühlt man sich schnell ausgeschlossen. Kreuz und Queer* zeigt: „Das muss nicht so sein!“, und lädt ein, am Aktionstag am 16. Mai ins Gespräch zu kommen.

Queer* und katholisch zu sein ist kein Widerspruch. Bild: Kreuz und Queer*
Für Noah wäre das Beste, das geschehen könnte, wenn die Gegenüberstellung von Gesellschaft und Kirche irgendwann wegfiele und man sich annähern würde. „Glaube ist für mich immer etwas, das frei macht – frei von Zwängen und Angst”, träumt der 22-Jährige. Seine Utopie von Kirche ist eine akzeptierende Kirche, die jeden Menschen akzeptiert – als voll dem Schöpfungsplan Gottes entsprechenden Menschen, ganz egal, wen dieser liebt. Abschließend sagt Noah mit fester Stimme: „Dann könnte die Kirche in vollem Maße dem Auftrag Jesu gerecht werden: einzustehen für Gerechtigkeit und Frieden.“ Auch wenn dieser Gedanke unrealistisch scheint, fühlt er sich wohlig weich und gemütlich an – wie ein Zuhause. Noah wirkt voller Hoffnung und Motivation. Ich glaube, wenn sich möglichst viele dafür einsetzen, kann die Kirche wirklich zu einem Zuhause für alle werden, wo, wie Noah sagt, „Gerechtigkeit und Frieden“ herrscht.