In letzter Zeit stelle ich mir immer wieder vor, wie die beliebte Serie „How I Met Your Mother“ aussehen würde, wenn sie anstelle der frühen 2000er heute spielen würde. Wie viel Zeit würde sich Ted sparen (oder vergeuden), wenn er sich nicht allabendlich im MacLaren’s Pub auf der Suche nach seiner Zukünftigen die Nächte um die Ohren schlagen müsste. Alter, Hobbies, Ausbildung, Beruf – alles steht aufgelistet auf dem Bildschirm direkt vor seiner Nase. Das langwierige Ansprechen und Herausfinden, ob die Begehrte überhaupt seinen Ansprüchen entsprechen würde, fällt zumindest zu einem kleinen Teil weg.
Digitale Flirtversuche
Dating-Apps, oder groteskerweise auch das Internet (jede App ist eine Dating-App, wenn du creepy genug bist), überholen mittlerweile das Kennenlernen in Bars oder Discos – Barney ist eher nicht erfreut, denn „Have you met Ted“ kommt im Chat nicht so gut an. In den vergangenen vier Jahren hat sich die Anzahl der online entstandenen Beziehungen beinahe verdoppelt: 2018 waren es noch 23 Prozent, 2021 schon 43 Prozent. Laut einer im Winter 2021 von marktagent.at durchgeführten Studie ist es für 90 Prozent aller befragten 1.500 Österreicher*innen heutzutage ganz normal, jemanden im Internet kennenzulernen.
Nicht nur Tinders Gewinne steigen seit dem Launch vor mittlerweile fast 10 Jahren stetig; mehr und mehr Nutzer*innen laden sich die App auf ihr Smartphone. Aber was erhoffen sie sich dabei? Um das herauszufinden, fragt man am besten da, wo man sich Antworten erwarten kann: auf Tinder selbst.
Zwischen One-Night-Stand, Ghosting und der vermeintlich wahren Liebe
Ich wage den Selbstversuch, lade mir kurzerhand Tinder herunter und stürze mich ins Getümmel. Matches zu bekommen, ist auf Tinder gar nicht schwer – wenn man weiblich ist und nach Heteros sucht. Antworten zu bekommen, stellt sich hingegen bald als Herausforderung dar, überhaupt, wenn ich mit der Sprache herausrücke, dass ich Tinder wegen eines Artikels benutze. Meistens werde ich geghostet, also komplett ignoriert. Ein Phänomen, das sehr häufig vorkommt und sich alles andere als gut anfühlt.
Drei, vier Glückstreffer lande ich dann doch. Es gibt auch Matches, die bereit sind, mir meine neugierigen Fragen zu beantworten. Dabei kommen aber keineswegs Neuigkeiten ans Licht. Ich frage sie alle, warum sie auf Tinder sind, bekomme immer ähnliche Antworten. Das erste Match des Tages, das mir auch blitzschnell antwortet, ist Elias*, 23 Jahre. Er verrät mir, dass es im echten Leben gerade mit einem Mädchen nicht geklappt hat, als Reaktion darauf hat er sich die App geholt. Natürlich gibt es immer wieder Menschen, die auf Tinder den passenden Deckel für ihren Topf finden, die meisten suchen aber (was nicht weiter verwerflich ist) nur nach einer Frischhaltefolie. Matthias*, 22, ein Match aus München, hat die App jetzt bereits schon das siebte Mal heruntergeladen. Er ist immer noch voller Hoffnung, dass es möglich ist, hier jemanden fürs Leben kennenzulernen.
In den ungewöhnlichen Jahren, die wir momentan erleben, wagen sich zunehmend mehr Menschen auf der Suche nach der wahren Liebe oder in der Hoffnung auf etwas Lockeres für zwischendurch auf Dating-Apps. Tinder wird beinahe als Synonym für Online-Dating verwendet und findet sich auf fast jedem Smartphone der 20-jährigen Singles. Dabei fällt auf, dass sich nicht nur Singles auf der App ihre Zeit vertreiben. Auf der Suche nach vermeintlichen Tanzpartnern oder „Saufbuddies“, streunen einige Profile durchs Netz, die nach reiner Freundschaft suchen. „Auf Tinder haben die nichts verloren“, meint Matthias. Freundschaft kann man hier, seiner Ansicht nach, nicht finden, und das Ganze auf keinen Fall zu ernst nehmen.

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Wer nicht wagt, der nicht gewinnt
Spielchen spielen – das ist die Tinder-Dynamik. Kurzweilige Flirts kann man finden, alles andere ist fast schon zu hoffnungsvoll. Versteckspielen, sich rar zu machen, gilt beim Onlinedating beinahe als Qualitätsmerkmal, ja nicht zu interessiert wirken, ja nicht zu bedürftig, das schreckt die meisten Menschen ab. „Hinterm Handy kann man sich verstecken und traut sich eher, etwas zu fragen“, beichtet mir Jonas*, 20. Ironischerweise ist es genau er, mit dem ich mich tatsächlich treffe. Wir landen im neu eröffneten Dunkin’ Donuts. Gar kein schlechter Ort für ein erstes Date, „außer sie ist Diabetikerin und ich weiß nichts davon“, sagt Jonas.
Wie gut muss man jemanden kennen, bevor man sich auf ein Date mit der Person wagt? Und wie lange schreiben ist zu lange, sodass vielleicht keines mehr zustande kommt oder aber beide Seiten ein gänzlich verfälschtes Bild voneinander haben? Sollte es dann mal zu einem Treffen kommen, kann das auch ganz skurril enden. Meine Matches berichten mir von Dates, die eine Hausschildkröte und einen Koffer packenden Exfreund involvieren, bis hin zu bizarren Dreieranfragen, die direkt beim ersten Date im Café gestellt werden (und nebenbei auch angenommen wurden).
Oberflächlichkeit und Selbstinszenierung
Tinders Konzept, anhand von ein paar Bildern und eventuell einer kurzen Beschreibung entscheiden zu müssen, ob einem die Person gefällt oder nicht, hat zwei Seiten. Auf der einen Seite macht das endlose Hin-und-Her-Wischen süchtig – hinterm nächsten Swipe könnte dein Traumpartner auf dich warten. Gleichzeitig kann „aussortiert“ werden, was sowieso nicht passen würde. Auf der anderen Seite ist das System auch täuschend. Es geht im Grunde nur um Selbstdarstellung, teilweise wird Tinder sogar dafür genutzt, das eigene Instagram-Profil zu promoten. Die App ist oberflächlich, das ist klar. Im Vergleich zu anderen Dating Apps, wie zum Beispiel Bumble, bei der nur Frauen den Chat beginnen können, lässt Tinder seinen Nutzer*innen deutlich mehr Spielraum. Auch verfallen bei Tinder die Matches nicht bereits nach 24 Stunden. Man kann sie also regelrecht sammeln. Wenn man sich zu präsentieren weiß, und selbst nicht allzu wählerisch beim Rechts-Swipen ist, kommen dutzende Matches zustande. Quantity statt Quality. Aber was bringen diese unzähligen Treffer überhaupt? „Ein Boost fürs Selbstbewusstsein“, teilt mir Lukas*, 20, mit. Eine „Marktwert- Abfrage“ meint Elias. Danach kann die App gelöscht werden, mit neuem Selbstvertrauen in der Tasche.
Ich bin dann mal weg
Ich will Tinder nicht verurteilen. Viele der befragten Matches benutzen sie schon seit Jahren. Im Endeffekt ist es genauso eine App wie Snapchat oder Instagram, man muss sie für seine Zwecke einzusetzen wissen. Von Tinder habe ich persönlich allerdings schneller genug als gedacht. Die anfänglich freudige Erwartung, wenn das Handy vibriert und damit eine neue Nachricht signalisiert, schlägt bald in Genervtheit um. Die Oberflächlichkeit von Tinder wird mit der Zeit langweilig, die kurzweilige Ablenkung schlägt in Kopfschmerzen um. Ich lösche die App. Ciao, war nett.
*Namen redaktionell geändert
Dieser Beitrag erschien erstmals in der März-Ausgabe 2022.