Aller Anfang ist schwer – das gilt nicht nur für den ersten Jännermorgen, sondern auch, wenn es um das Studium geht. Manchen fällt es leichter, manchen schwerer, sich letztendlich für ein Studium zu entscheiden, und viele Studierende denken oft darüber nach, wie ihr Leben wohl aussehen würde, wenn sie sich doch für ein anderes Studium entschieden hätten. Da zu viel nachdenken nachweislich ungesund ist, und Probieren selbstverständlich immer über Studieren geht, ist es wieder einmal an der Zeit für einen Unipress-Selbstversuch – in dem ich drei Tage lang versuche, in andere studentische Rollen zu schlüpfen.
Montag – Jus
Bewaffnet mit einem gelben Buch, das Kodex heißt und eigentlich nicht mir gehört, sitze ich bereits am Vormittag im historischen Lesesaal der Hauptbibliothek. Unauffällig bekleidet mit Hemd, Sakko, und brauner Cordhose mache ich mich in dieser paragraphischen Gestaltung an die Juristerei.
Ich merke schnell: Es ist kein leichtes Leben. Ich lese zufällig ausgewählte Seiten im Kodex für Chemierecht und lasse mir kaum anmerken, dass ich mich etwas dafür schäme, keine Armbanduhr zu tragen. Wirkt meine Tarnung gut? Ich blicke mich um, ich scheine niemandem aufzufallen. Zur Sicherheit packe ich meinen ELSA-Kugelschreiber aus und notiere mir einige Paragraphen, den für diesen Artikel möglicherweise relevanten Paragraphen – § 146 StGB – allerdings nicht. Nachdem ich das mehrere Male wiederholt habe, kann ich mir ein paar davon merken. Mit diesem Wissen gewappnet wage ich es, in einer Kaffeepause kurz mit einem Jus-Studenten zu reden. „Hast du auch schon die Prüfung beim Schennach geschrieben?”, frage ich, um mich als einen der Seinigen zu outen.
Ein kritischer Blick. Habe ich den Namen falsch betont? Bin ich schon ein Verdächtiger? In dubio pro reo – aber was, wenn erst gar kein dubio über meine Schuldigkeit, kein Jusler zu sein, besteht? Glücklicherweise kann ich unter Einsatz des rechtlichen Instrumentes der Lüge meinen Sitzplatz auf dieser Anklagebank auf- und mich wieder in die heiligen
Hallen des Historischen begeben – denn das ist nun mein Leben, auf unbequemen Holzsesseln, in langen Lernsitzungen und abendlichen Ausflügen in die Bar Centrale. Würde ich weitermachen, die Monate würden zu schlagwortartigen Fächernamen. Die Jahreszeiten wären Strafrecht, Europarecht, Verfassung. Bürgerlich. Alles überstrahlt vom gleißenden Gelb meiner neuen Sonne – dem Kodex.
Dienstag – Bauingenieurwissenschaften
Heute bin ich Bauingenieur. Zu diesem Zweck habe ich bereits vor einigen Wochen unter der Mithilfe eines bauingenieurlichen Komplizen eine Whatsapp-Gruppe für Bauingenieurstudenten infiltriert. Das Ziel: der Aufbau einer Identität als Bauingenieur, die jedem hinterfragenden Unwetter und jeder kritischen Inspektion standhält. Als Bauingenieurwesen wandle ich nun durch die Fakultät für Bauingenieurwesen. Meine neue Identität: Florian, jovialer „Bauli“ (eine von mir erfundene Abkürzung für die etwas zungenbrechenden Bezeichnung „Bauingenieurstudent”), der wahlweise mit Elan oder mit Verzweiflung versucht, den Zusammenhalt unter den Baulis zu fördern, indem er Parties organisiert. Wird mir das gelingen?
Nein. Bereits meine erste Aktion, die Ankündigung einer Bauingenieursparty im Dachsbau, der zu diesem Zweck zur „Dachsbauingenieurspartylocation“ umfunktioniert werden hätte sollen, scheitert grandios, und zieht als Reaktion mehrere Austritte aus der Bauli-Whatsappgruppe mit sich. Auch meine gut gemeinte Nachricht bezüglich einer Prüfung zum Thema Festigkeitslehre führt nur zu weiteren Austritten.
Nicht nur aller Anfang ist, auch aller Abschied fällt schwer. War es überzogen, meine neuen Studienkollegen gleich zu ermutigen, die Festigkeitslehre zur “Bestigkeitslehre” zu machen? Oder dafür sorgen zu wollen, dass wir Bauingenieure nach der Prüfung zu “Blauingenieuren” werden? Wurde mein herzliches „Bau Auf“ am Ende jeder Nachricht als nicht herzlich genug – oder gar unherzlich empfunden?
Diese Gedanken bauen sich in meinem Kopf zu einem Wolkenkratzer aus Ziegelsteinen des Zweifels auf, und auch außerhalb meines Geistes bröckelt meine bis dato gelebte bauingenieurstudentische Identität. Die Bauingenieur-Florian-Fassade bekommt langsam tiefere Risse, wird von ihnen durchzogen und droht, an ihnen zu zerbrechen. Genauso zerbricht die Whatsapp-Gruppe langsam aber sicher an den Austritten, die meine Versuche, erbaulichen Zusammenhalt zu pflegen und zu fördern, mit sich ziehen. Manchmal ist die Wirklichkeit doch hässlicher als es selbst das Viktor-Franz-Hess-Haus zu sein vermag. Die Whatsapp-Gruppe wird zu einem Lehrstück für Statik, sie ist an den Grenzen ihrer Belastbarkeit anbelangt, das Tragwerk kostet den Geschmack von Unerträglichkeit, und es hagelt mittlerweile nicht nur Austritte, sondern auch Anschuldigungen bezüglich meiner Unbauingenieurlichkeit.
Bevor ich meinen Status als Bauingenieurstudent mittels mehrerer whatsapplicher Tiraden verteidigen kann, beschließe ich, diese Baustelle zu verlassen. Mein Einwirken als äußere Last hat nur Spannungen und Verformungen zur Folge. Es gelingt mir nicht, zu bauen, was ich bauen wollte – was letztendlich bedeutet, dass ich wohl kein guter Bauingenieur wäre.
Mittwoch – Translationswissenschaft
M. steht um 15:20 vor der Neuen Mensa. Er ist mein Kontakt in die wunderbare Welt der Translationswissenschaft, und ich treffe mich mit ihm, um ein Englisch-Seminar zu besuchen. Da diese Aktion nicht mit der Lehrveranstaltungsleiterin abgesprochen ist, sitzen wir im hinteren Teil des Raumes und vertrauen darauf, dass meine Anwesenheit unter den ca. 23 anderen Personen nicht auffällt.
„Hello.“ Noch bin ich nicht aufgeflogen, aber die Achselbereiche meines Pullovers weisen schon erste Schweißflecken auf. Mein Plan stellt sich als nicht unlöchrig heraus, als die Professorin beginnt, Blätter mit Übungsaufgaben auszuteilen. Sie erreicht unseren Tisch und ich schaue weg, was vermutlich kein unbedingter Hinweis auf den geringsten Hauch einer meinigen Anwesenheitsberechtigung ist. Sie bewegt sich wieder nach vorne und ich meine Augen auf den ausgeteilten Zettel – gelückentexte if-sentences. Ich rate mich durch hypothetische Sätze. If I had decided to become a translator, I would do this every day. Mein Sitznachbar flüstert mir entgegen, dass sich die Professorin noch zweimal umgedreht und mich angeschaut hat, bevor sie wieder vor die Studierenden getreten ist, aber ich höre kaum zu. Ich hangle mich von word zu word, spiele alle möglichen und unmöglichen Übersetzungen durch, beschreite langsam aber sicher meinen Weg vom Untersetzer zum Übersetzer. Abgeben will ich meine nun selbstbewusst und selbstverständlich mit Kugelschreiber gefüllten Lückentexte am Ende der Übung lieber doch nicht. Im Laufe der eineinhalb übersetzenden hours (das bedeutet Stunden) werde ich etwas frecher: Ich melde mich, übersetze überzeugend und übersitzend auf dem Stuhl, den ich nie besitzen hätte sollen, in der Sprache, die nicht meine ist, in der Lehrveranstaltung, die ich eigentlich nicht besuchen dürfte. Alles läuft nach Plan.
Aber was ist der Plan? Ist der Plan, jeden Tag etwas anderes studieren zu wollen, nicht doch auch ein artikelgewordener if-sentence? Sind diese meine jus- bauingenieur- und trawistudentischen Tage nicht nur kalendarische Abschnitte, die sich in den hypothetischen Abgründen des was-wäre-wenn verlieren Neujahrsvorsatzhafte Baumaterialien, aus denen man sich jeweils nur für kurze Zeit neue Angewohnheiten, neue Tagesstrukturen, ein neues Ich bastelt, um dann doch wieder den und in die und in den alten Gewohnheiten zu verfallen? Vielleicht ist es an der Zeit, dieses Experiment abzubrechen. Das „if“ zu streichen, stattdessen vermehrt in Ist-Sentences zu denken, und sich die vorgenommenen Veränderungen länger als einen Tag vorzunehmen. Und auch wenn aller Anfang schwer ist – vielleicht ist es an der Zeit, mit den Experimenten aufzuhören, und anzufangen, Vorgesetztes zu Umgesetztem zu machen.
Frohes neues Semester!
Dieser Artikel erschien erstmals in der Jänner-Ausgabe 2019.