Eine Woche voller Umfragen

von Fabian Bär
Lesezeit: 6 min
Umfragen: Herzstück jeder sozialwissenschaftlichen Forschung, Lieferanten der Hard Facts aller Soft Sciences, Inhalt der meisten ungelesenen Mails im Postfach des LFU-Email-Accounts. Qualitativ oder quantitativ machen sie sich schwankungsbreit zwischen den Mails von Rektorat, Referatsgruppenmitgliedern, und Johann Katzlinger. Doch was passiert, wenn man tatsächlich eine Woche lang an allen diesen Umfragen teilnimmt?

Tag 1 – Montag 

Wieder einmal ist es Zeit für einen UNIpress-Selbstversuch. Ich beginne meine Woche voller Fragen mit einem Fragebogen zum Thema „Einfluss von Terrorismus auf Reiseverhalten und Persönlichkeit“. Die ersten Fragen befassen sich mit meinem Geschlecht (✔️ männlich), Alter (✔️ 24), Beziehungsstatus (✔️ Single), Einkommen (✔️ verrate ich in diesem Artikel nicht) – so weit, so einfach zu beantworten. Dann geht es ans Eingemachte: „Die folgenden Fragen betreffen den Einfluss von Terrorismus auf Ihr Reiseverhalten“. Es sind simple Ja/Nein-Fragen, für die eher unsicheren Umfragebeantwortenden unter uns abgeschwächt durch die zusätzlichen Antwortmöglichkeiten „Eher nicht“ und „Eher schon“.  

Umfragen über Umfragen

 

„Würden Sie Ihren geplanten Urlaub, nachdem ein Terroranschlag in ihrem Urlaubsziel stattgefunden hat, buchen?“ – ich beginne, nachzudenken. Meine Antwort auf diese Frage bestimmt alle weiteren Antworten meinerseits – schließlich will ich mich nicht in peinliche Widersprüche verwickeln. Wie stehe ich da, wenn ich mit „ja“ antworte? Haben die Terroristen dann nicht gewonnen?   

Ich entscheide mich für den Weg aller Weicheier und vermeide es, klar und eindeutig Stellung zu beziehen, indem ich auf „Eher schon“ klicke. Ich habe meine Nicht-Entscheidung getroffen und konsequent versuche ich, die „Eher“-Haltung den ganzen Fragebogen über durchzuziehen, was auch eher schon funktioniert. Mir selbst aufgrund der Beantwortung des ersten Teils des Fragebogens gratulierend, pausiere ich die Umfrage, mit dem Ziel, sie ein anderes Mal ganz bestimmt zu beenden. Zeigen sich hier schon erste Einflüsse von Faulheit auf mein Umfragebeantwortungsverhalten? (✔️ trifft eher zu) 

Tag 2 – Dienstag 

Neuer Tag, neue Umfrage. Dieses Mal auf dem Programm: Kryptowährungen. Ich habe weder Ahnung von noch viel Interesse an diesem Thema, scheue mich aber nicht davor, meine Pflicht zu tun. Diese Umfrage ist etwas komplexer, man wird mit vielen Daten und Zahlen bombardiert, mit denen man (beziehungsweise: ich) nicht viel anfangen kann. Es geht darum, wie viel Geld ich anhand der vorliegenden Daten in die jeweilige hypothetische Kryptowährung investieren würde. Wie jeder andere Krypto-Investor tue ich so, als hätte ich die Grafiken und Zahlen aufmerksam gelesen, verstanden, und klicke selbstbewusst auf „I would invest a lot“.  

 

Verantwortungsbewusste Investment-Praxis

 

Das wiederhole ich so lange, bis mir a) langweilig wird, b) einfällt, dass sich die Ersteller der Umfrage viel Mühe dabei gegeben haben und c) bewusst wird, dass ich vermutlich einfach nicht die Art von Person bin, an die der Fragebogen gerichtet ist – zutreffendes bitte ankreuzen. Diese Gedankenblöcke verketten sich zu einer Blockchain des schlechten Gewissens und ich entschließe mich leichten Herzens dazu, die digitale Transaktion meiner Antworten abzubrechen. Beginne ich langsam, Zweifel in mein Tun zu investieren? (✔️ trifft teilweise zu) 

Tag 3 – Mittwoch 

„Eine gute Tat am Tag :)“ lächelt mir der Betreff der ungelesenen Email manipulativ zu. Es ist, wie könnte es auch anders sein, ein neuer Fragebogen. Thema: Sportverhalten. Wie oft und wie intensiv habe ich mich in den letzten sieben Tagen bewegt?  

Da ich mich nicht geistig-gymnastisch betätigen will, um die unsportliche Wahrheit zu dehnen, beschließe ich, vor diesem Fragebogen davonzujoggen. Zählt das nicht auch schon als gute Tat? (✔️ trifft überhaupt nicht zu)  

 

An Umfrage a day keeps the crushing guilt away

Tag 4 – Donnerstag 

Ich sitze an einem der schwarzen Geisterbeschwörungstische im Eingangsbereich der SoWi und überlege mir, welchen Fragebogen ich als nächstes beantworte. Doch dieses Mal wähle nicht ich die Umfrage, die Umfrage wählt mich. Eine Studentin spricht mich an, sie sucht Fragenbeantwortende für eine Arbeit. Umgibt mich mittlerweile eine umfragende Aura? Sie führt mich hinter eine Trennwand, zu sehen sind ein Einkaufswagen und ein Computer-Bildschirm. Meine Aufgabe als Stichproband ist es nun, den Einkaufswagen festzuhalten und währenddessen anzugeben, welche Produkte ich kaufen würde. Bin ich inzwischen so gefragt (oder überfragt?), dass man es mir ansieht?  

Während ich darüber nachdenke, erscheinen Bilder von Produkten auf dem Bildschirm – der Fragebogen beginnt, mich wie so oft mit Fragepfeilen abzuschießen. Foto einer Tiefkühlpizza. Die Frau stellt mir zwei Fragen: „Würden Sie das Produkt kaufen, und wenn ja, wie viel davon?“ Ich stelle mir eine Frage: Wie schaffe ich den Spagat, eine Antwort zu finden, die realistisch ausfällt, ohne mich als Mensch mit ungesundem Lebenswandel da stehen zu lassen? Bei den anderen Produkten (Salat, Äpfel) antworte ich wahrheitsgemäß, aber hier? 

„Nein.“ lüge ich der fragenden Studentin schlussendlich schamlos ins Gesicht. Kauft sie mir das ab? (✔️ trifft eher nicht zu)

Tag 5 – Freitag 

Der letzte Tag meines Experiments ist angebrochen. Nach meiner gestrigen Erkenntnis, dass es eigentlich ganz okay ist, bei Umfragen zu lügen, wenn man unbedingt daran teilnehmen will, hält mich nun nichts mehr auf.1 „Du betreibst wettkampfmäßig Individualsport?“ Na klar! Und ich kämpfe mich mit Leichtigkeit durch den Fragebogen, der sich eigentlich an Leistungssportler richtet. Ich habe begonnen, mein Leben immer mehr in einem umfragenden Kontext zu sehen, alles Sein immer tiefergehender zu hinterfragen. Was mache ich hier eigentlich? Eine „Studie zu Trennungserfahrungen“. Ich antworte mich durch herzzerbrechende Erinnerungen. Bin ich inzwischen süchtig? Nach den Fragen, der damit einhergehenden Reflexion? Sind die Umfragen zu meinem Sokrates geworden, und ich zu denjenigen, denen er hilft, die Wahrheit zu gebären? Um mich von diesen Fragen abzulenken, suche ich nach neuen Fragebögen. Doch mein Postfach ist leer geworden, ich bin fraglos unglücklich. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, meine eigene Umfrage zu erstellen und sie mit den Fragen zu füllen, die ich besonders gerne beantworte, hinterfrage diesen Gedanken aber glücklicherweise mit einer kurzen geistigen Selbst-Umfrage. („Wäre das komplett wahnsinnig?“ „✔️ trifft eher zu“) 

Schlussendlich lande ich wieder bei der Urlaubs-Umfrage, die ich am Montag vorzeitig storniert habe. Der zweite Teil des Fragebogens erfragt nun meine Persönlichkeitsmerkmale – wie sehe ich mich selbst? Wer bin ich eigentlich? Bin ich meine sozioökonomischen Daten, meine Persönlichkeitsmerkmale – oder bin ich die Art, wie ich Umfragen beantworte? Welche Antworten erwarte ich selbst von mir? Bin ich kreativ? Ich versuche, die Fragen anhand meines dieswöchentlichen Umfrageverhaltens zu beantworten. Bin ich immer ehrlich? Wenn ich zwei Seiten lang über meine Antworten auf Fragebögen nachdenke – denke ich dann eher lange über Sachen nach? Gelangt man auf diesen umfragenden Pfaden letztlich nicht immer zur Selbstreflexion?

 

Die vollkommene Selbstreflexion

 

Langsam ist der Fragebogen überspannt. Den Fragebatterien geht der Saft aus, sie kommen mir immer leerer vor, und meine Antworten werden mechanisch. Trifft eher zu, trifft eher nicht zu, trifft teils/teils zu. Bin ich mit meinen Antworten zufrieden? Welche Antwortmöglichkeit ist in ihrer Schwammigkeit undeutlich genug, um nicht länger darüber nachdenken zu müssen? Zutreffendes bitte ankreuzen. Was stelle ich mit meinem Leben an? Sinnvoll, eher sinnvoll, eher sinnlos, ohne jeden Sinn? Die Umfrage ist zu Ende, alle offenen Fragen sind geschlossen und keine geschlossene Frage bleibt offen, aber die Fragen hören nicht auf. Meine Existenz ist zu einem kontinuierlichen Fragebogen geworden. Wer wertet ihn aus?

1 Anmerkung: Es ist nicht okay und selbstverständlich wurde auch keine unehrlich beantworteten Umfrage am Ende eingereicht.

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