Was bleibt einem in diesen Tagen schon anderes übrig, als zu verzweifeln? Die Uni hat geschlossen, die sowieso schon sehr lose studentische Struktur im Leben ist bis zum Oktober verloren, und genauso droht man, sich in der Strukturlosigkeit des sommerlichen Seins zu verlieren. Studierende ohne Uni sind wie Ameisen ohne Bau, Bauern ohne Hof, Hofer ohne Napoleon, Neapolitaner ohne rosarote Hülle, Hüllen ohne Inhalt, Inhalte ohne Botschaft, Botschafter ohne Diplomatenpass, und Metaphern ohne Sinn. Was bleibt einem nun, um dieser Sinnlosigkeit zu entfliehen? Praktika? Ferialarbeit? Lernen? Nein. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als in der Nähe verschiedener Universitätsstandorte Dosenbier zu trinken und dabei über einen der wichtigsten Philosophen aller Zeiten – Thomas von Aquin – nachzudenken. Wir haben die besten Plätze dafür im großen UNIPRESS-Selbstversuch getestet.
Geiwi-Vorplatz
Auf den Vorplatz der geisteswissenschaftlichen Fakultät gelangt man normalerweise über mehrere Routen, die sich in ihren Schwierigkeitsgraden nicht sonderlich unterscheiden. Ausgangspunkt für die zwei gängigsten Gehwege ist der Platz vor dem Haupteingang der Universitäts- und Landesbibliothek. Der Aufstieg zum Vorplatz erfolgt nun entweder über die „Bib-Route“ (Dauer: variabel), die über eine etwas längere Treppenpassage und durch das Bruno-Sander-Haus führt, oder über die Outdoor-Wandertreppe zwischen Hauptbibliothek und Christoph-Probst-Platz (Dauer: circa drei Minuten für geübte Treppensteigende). Hat man den Aufstieg geschafft, befindet man sich nun inmitten einer Betonlandschaft, deren monotones Grau zum Glück nur vereinzelt durch Hinweise auf Pflanzen gestört wird. Verbunden mit den dort vorhandenen Sitzgelegenheiten aus dreckig-orangem Plastik hat man hier nun ein Ambiente, das im kühlen Schatten des Geiwi-Turms fast schon nach Dosenbier schreit, und nach den ersten durstlöschenden Schlucken stellt sich und man sich wieder einmal die Frage: Wer war Thomas von Aquin?
Innufer – Sonnendeck
„Sonnendeck” ist der Name einer regelmäßig stattfindenden Party im Freien, gleich am Innufer hinter der Hauptbibliothek. „Ist heute Sonnendeck?“, „Gehen wir Sonnendeck?“, „Wann ist noch mal Sonnendeck?“ – das sind nicht nur Fragen, die sich viele Studierende im Laufe ihres Studiums stellen, es sind auch Fragen, deren Antworten oft nur fragend gegeben und somit auch gestellt werden: Mittwoch? Freitag? April? September? Im Winter sicher nicht, aber wann genau im Sommer? Und wenn es regnet? (Die richtige Antwort lautet: Freitags bei schönem Wetter.) Doch auch abseits sonnengedeckter Freitage kann man am Ufer des Flusses hinter der Universitäts- und Landesbibliothek an einer Verschlechterung der Leberwerte arbeiten. Mit etwas Dosenbier bauen wir uns hier unser eigenes Sonnendeck. Diese Vorgehensweise besticht vor allem durch ihre zeitliche Ungebundenheit. Vorbei die Tage der Ungewissheit, ob uns die Sonne deckt oder nicht, vorbei das stundenlange Warten auf den Abend, und vorbei die Fixierung auf nur einen Wochentag – schließlich gibt es nicht nur am Freitagabend was zu feiern, sondern beispielsweise auch am Montagmorgen oder am Mittwochmittag. Hier trink ich Bier, hier darf ich sein, frei von jeglichen antiquierten und einengenden Vorstellungen von adäquaten Uhrzeiten, was Alkoholkonsum betrifft. Zeitlich ungebunden – zeitlos – ist in vielerlei Hinsicht auch das philosophische Werk Thomas von Aquins. Auf diesen Gedanken baut gleich die nächste Frage, die geneigten Dosenbierenthusiasten in den Sinn kommen mag: Wann war Thomas von Aquin? Auch wenn sich sein Leben auf gewisse zeitliche Eckdaten eingrenzen lässt, geboren 1225, gestorben 1274, dazwischen gelebt, beschränkt sich weder Geistes- noch Wirkungsgeschichte seines Schaffens auf diesen Zeitraum. Nächster Dosenbierschluck, nächste Dosenbiertrinkstation: die Wiese vor der SoWi.
SoWi-Wiese
Die Wiese, die sich zwischen der Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und dem Management Center Innsbruck befindet, bietet sich als wunderbares Gelände für Outdoor-Aktivitäten der ruhigeren bis mittelruhigeren Art an und ist somit bestens für kleinere Dosenbiersessions geeignet. Zu Fuß hat man die von vielen Studierenden oft liebevoll als „Sowiese” bezeichnete Grünfläche innerhalb von wenigen Momenten durchquert, mit vereinzelten Glasscherben oder leichten Urinspuren der letztnächtlichen Besucher nähergelegener Lokale darf gerechnet werden. Die Umrisse der Wiese sind nicht besonders klar definiert, ihre Form deutet auf einen Halbkreis hin, aber wesentlich treffend ist diese geometrische Beschreibung sicher nicht. Innerhalb von unklar definierten Grenzen, nur annähernd beschreibbaren Formen, kann man das Werk Thomas von Aquins auch verorten. Nicht etwa, weil seine Worte nicht klar wären, sein Denken zu unpräzise, oder seine Aussagen zu beliebig – im Gegenteil. Sondern weil das Aquin’sche Werk in seiner Vielfalt nicht nur zeit-, sondern auch schier grenzenlos ist. Ethiker, politischer Philosoph, Aristoteles-Rezipient, Theologe, Metaphysiker, Ontologe, Paradigmenwechsler, Gottesbeweisender – Thomas von Aquin und sein Werk lassen sich auf viele Weisen klassifizieren, und überwinden gleichzeitig jede einzelne davon.
Technik
Auch auf dem Gelände der Technik ergeben sich genügend Möglichkeiten, Dosenbier zu trinken, beispielsweise auf dem Vorplatz des Victor-Franz-Hess-Hauses. Nach einem Fußmarsch über den Parkplatz (circa fünf bis 25 Minuten, je nachdem, wie viele Dosenbiertrinkplätze schon davor getestet wurden) und einem kurzen Aufstieg, der auch für ungeübtere Wandernde relativ unaufwändig zu bewältigen ist, kann man hier gut rasten, das ein oder andere Dosenbier aufmachen, und über Thomas von Aquin nachdenken. Einkehren kann man in der nicht weit entfernt gelegenen Mensa, die in der vorlesungsfreien Saison allerdings nicht geöffnet hat, und zur Einkehr lädt auch das Denken Thomas von Aquins ein. Aber befinden wir uns hier am richtigen Ort dafür? Kann man thomistisches Denken und Naturwissenschaft verbinden, ohne auf unüberwindbare Differenzen zu stoßen? Das kann man durchaus, zumindest nach Ansicht der meisten zeitgenössischen Thomistinnen und Thomisten. Der Thomismus ist nicht etwa mit Thomas von Aquin gestorben – im Gegenteil lassen sich seit circa 150 Jahren mehrere neue und spannende thomistische Strömungen identifizieren. Das Projekt Analytischer Thomismus, das zum Ziel hat, thomistisches Denken in die Sprache und Kategorien der zeitgenössischen, analytischen Philosophie zu übersetzen, findet seit einigen Jahrzehnten zahlreiche, durchaus namhafte Anhängerinnen und Anhänger – der Ethiker Alasdair MacIntyre, das philosophische Ehepaar Elisabeth Anscombe und Peter Geach, und der Religionsphilosoph Anthony Kenny zählen nur zu den bekanntesten. Auch Philippa Foot und David Oderberg, beide bekannte Namen in der Moralphilosophie, sind in ihrem Denken stark von Thomas von Aquin beeinflusst. Alle diese Expertinnen und Experten würden vermutlich unterschreiben, dass thomistische Philosophie und zeitgenössische Naturwissenschaft keine Gegensätze sein müssen, solange man selbstverständlich unter den Annahmen aristotelischer Metaphysik operiert. Macht der erste Trunk aus der Bierdose der Naturwissenschaft atheistisch? Wartet am Grund des Bechers Gott? Wie viele Wege müssen wir beschreiten, um zu ihm zu kommen?
Hofgarten
Nur wenige Gehminuten von der Sowi und nur unwesentlich mehr Fahrminuten von der Technik entfernt befindet sich zwar nicht Gott, dafür aber ein Geheimtipp, der nur echten Insidern der Innsbrucker Dosenbiertrinkszene bekannt ist, ein gut versteckter Ort, der in der Szene nur „Hofgarten” genannt wird. Inmitten eines Waldes an Bäumen finden sich hier viele Wiesen, die perfekt dafür geeignet sind, Dosenbier zu trinken und über Thomas von Aquin nachzudenken. Schnell mag man dazu geneigt sein, anhand der Bäume an das thomistische Gottesbild zu denken. Das Gotteskonzept Thomas von Aquins ist das des Klassischen Theismus, der nicht nur an eine Religion gebunden ist – auch wenn Thomas von Aquin selbstverständlich lebenslanger Katholik war, waren seine Geschwister im Geiste der heidnische Philosoph Aristoteles, der jüdische Denker Maimonides, und der muslimische Autor Averroes. Klassischen Theisten ist gemein, dass sie Gott als letztendlichen Grund allen Seiendens und Werdendens sehen. Im Klassischen Theismus ist Gott, in den Worten Paul Tillichs, „Kein Seiender, sondern Sein selbst” . Das Tetragrammaton YHWH (“Ich-bin-der-Ich-bin”), der pure Akt und das reine Sein. Gott ist, um wieder in den Hofgarten zurückzukehren, nicht der größte Baum unter vielen Bäumen – er ist die Wiese, auf der alle Bäume stehen, der grundlegende Seinsgrund, auf dem wir alle sitzen und Dosenbier trinken können, weil er ist und wir durch sein Sein sein können. Und woher wissen wir, dass er ist? Durch die Fünf Wege von Thomas von Aquin, auf denen wir zur Existenz Gottes gelangen. Aber so weit sind wir noch nicht – wir sind im Hofgarten, bei einer Dose Bier. Je nach Tageszeit werfen die Bäume im Hofgarten, wie es für Bäume nicht unüblich ist, durchaus Schatten. Je nach Blickwinkel finden sich auch Schattenseiten in den Büchern Thomas von Aquins, die man durchaus und auch bei ein paar Dosenbieren kritisieren darf – und soll. Das hätte er vermutlich auch so gewollt, denn die stärksten Argumente gegen seine Positionen versucht Thomas von Aquin immer selbst zu formulieren und fair darzustellen. Auch das sollten wir immer bedenken, wenn wir uns zu Dosenbier in Uninähe Gedanken zu Thomas von Aquin machen – egal, für welchen Stand- oder Trinkpunkt wir uns letztendlich entscheiden. Warum also nicht gleichzeitig mit der nächsten Dose ein Buch von oder über Thomas von Aquin und damit den eigenen Geist öffnen?
Leseliste
Thomas von Aquin: “Summe der Theologie” (Online-Ausgabe des Originals in Latein und der deutschen Übersetzung, zur Verfügung gestellt von der Universität Freiburg)
K. Chesterton: “St. Thomas Aquinas: The Dumb Ox” (Sheed & Ward, Inc, 1933)
Brian Davies: “An Introduction to the Philosophy of Religion” (Oxford University Press, 2003)
Edward Feser: “Aquinas: A Beginner’s Guide” (Oneworld Publications, 2009)