Erasmus: Studieren in der Parallelwelt?

von Laura Klemm
Lesezeit: 4 min
Viele Erasmus-Studierende bleiben unter sich, gleichzeitig bedauern sie den fehlenden Austausch mit den einheimischen Studierenden. Misslingt Erasmus+? Beobachtungen einer Studentin, die beide Seiten kennt.

Erasmus+ ist das weltgrößte und erfolgreichste Programm für internationale Studierendenmobilitäten. Seit der Einführung im Jahr 1987 durch die Europäische Gemeinschaft verbringen jedes Semester zahlreiche Studierende einen Teil ihres Studiums an einer Universität im Ausland. Viele erhoffen sich davon, die Zielsprache zu lernen, sie wollen dem gewohnten Alltag für eine bestimmte Zeit entfliehen und sich persönlich weiterentwickeln. Sie streben nach Unbekanntem, möchten die ihnen fremde Kultur verstehen und sich in ihr zurechtfinden. Und natürlich: sich integrieren.

Im März 2023 sitze ich in einem Seminarraum der Universität Innsbruck. Wie jedes Semester schieben sich neue Gesichter durch die Gänge des Instituts: Erasmus-Studierende. Eigentlich möchte ich zum kulturellen Austausch beitragen, ihnen das Einfinden in Innsbruck erleichtern. Aber ich bin ein wenig gestresst, ich habe viel zu tun. Mir überhaupt Zeit für meine bestehenden Freundschaften zu nehmen, fällt mir schwer. Ich merke: Ich kann gerade keine Zeit und Mühe in eine potentielle Freundschaft stecken, die dieses eine Semester möglicherweise nicht überdauert. Nicht einmal ein halbes Jahr später sitze ich bei 30 Grad am Ufer der Rhone, einem der zwei Flüsse, die durch Lyon fließen. Ich bewohne ein kleines Zimmerchen im ersten Arrondissement. Die ersten Wochen sind bereits vergangen, ich fühle mich hier wohl. Die Wochenenden verbringe ich mit anderen Erasmus-Studierenden. Es ist schwer, die hier heimischen Studierenden kennenzulernen. Die Gründe sind zahlreich.

„Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Die Freizeitgestaltung der meisten Erasmus-Studierenden ist für die einheimischen Studierenden oft kaum finanzierbar. Viele Auslandsstudierende besuchen nicht nur sämtliche Ecken der neuen Heimatstadt, sondern auch alle mit Bus und Bahn erreichbaren umliegenden Städte. Manche internationale Studierende wollen außerdem nicht nur ihr Zielland kennenlernen. Das gilt besonders für diejenigen, die zuvor auf einem anderen Kontinent studiert haben. An den Wochenenden baden sie auf Mallorca, arbeiten sich durch Londons Innenstadt, besichtigen griechische Tempel. Sie verbringen kein Erasmus-Semester in einem anderen Land, sie leben in „Europe“ – eine einmalige Chance. Sowieso ist die akademische Motivation der meisten Erasmus-Studierenden eher gering. „Jetzt oder nie!“ lautet die allgemeine Einstellung, verbringen die meisten nur vier, fünf Monate im jeweiligen Zielland.

Dann: Man sitzt im selben Boot. Im Schaukelgang wird ähnlichen bürokratischen Hürden der Kampf angesagt (Erasmus-Beauftragten ohne Englisch-Kenntnisse, endlosen Warteschlangen vor dem Internationalen Büro), man leidet gemeinsam unter Sprachbarrieren und dem Nicht-Verstanden-Werden, an schlechten Tagen kann man ungefiltert Dampf ablassen. Miteinander kann man sich über Kultur-Kuriositäten austauschen, man versteht das Durcheinander aus Heim- und Fernweh, man lernt gemeinsam, die andere Kultur zu akzeptieren und wertzuschätzen (und darf zugeben, dass manchmal schon das bloße Akzeptieren schwerfällt).

Englisch als Lingua Franca

Es fehlt außerdem an Räumen, an denen ein zwangloser Austausch mit einheimischen Studierenden stattfinden kann. Ein richtiges Gespräch entsteht wohl kaum beim Tasche-Packen nach Ende des Kurses. Besonders in solchen Situationen scheitert es an Sprachbarrieren, an Verständnisproblemen und Sprachnuancen. Oft ist die Kommunikation in der Fremdsprache mit viel Unsicherheit, womöglich sogar Scham verbunden, und auf der anderen Seite fehlt die Geduld, zuzuhören, gegebenenfalls nachzufragen oder zu korrigieren. Viele Erasmus-Studierende versuchen ab einem gewissen Zeitpunkt in ihrem Aufenthalt, mit Bekannten aus der Erasmus-Community die Zielsprache zu sprechen. Manchen Erasmus-Studierenden fehlt dagegen die benötigten Sprachkompetenz ganz – Englisch ist für sie im Verlauf der ganzen Mobilität die einzige Verkehrssprache. An einem der zahlreichen warmen Tage verbringe ich meine Mittagspause mit zwei griechischen Anglistik-Studentinnen am Flussufer. “You know, it’s perfect!“ – eine der beiden nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee – “I can live here, I can study here, and I don’t even have to speak French!”

Eine Frage der Identität

Eines der zentralen Ziele von Erasmus+ scheitert in den meisten Fällen: der interkulturelle Austausch mit den einheimischen Studierenden. Die Welt der Erasmus-Studierenden existiert parallel zu dem Universum der einheimischen, je nach Stärke der Eigeninitiative gibt es mal mehr, mal weniger Berührungspunkte zwischen den beiden Welten.

Was jedoch funktioniert? Der Austausch innerhalb der internationalen Studierenden-Gemeinschaft. Viele Erasmus-Studierende würden in einigen Ländern Europas problemlos einen kostenlosen Schlafplatz finden. Manche Vorurteile bestätigen sich von Tag zu Tag, viele nicht. Sich über Gepflogenheiten der jeweiligen Kulturen austauschen, macht Unterschiede sichtbar und zeigt Gemeinsamkeiten auf. Es entsteht neben der nationalen Identität eine europäische Identität, diese zwei Identitäten können koexistieren, sie ergänzen sich, sie müssen sich nicht widersprechen. An einem Abend spreche ich eine Freundin auf diesen Gedanken an, nach einem ersten Erasmus-Semester in den Niederlanden verbringt sie nun ein zweites an derselben Universität in Lyon wie ich. Sie sagt: „Ich identifiziere mich nicht mehr mit meinem Heimatland, auch nicht mit meinen Zielland. Ich würde meine Identität nicht nur als europäisch, sondern als international beschreiben.“

 

 

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