Die Verschwörung der Kinderfresser

von Matthias Fleischmann
Lesezeit: 16 min
Die Anhänger von QAnon glauben fest daran, dass die Welt von einer Gruppe pädophiler Satanisten kontrolliert wird. Wir tauchen ein in die Welt der wohl waghalsigsten Verschwörungsideologie unserer Zeit.

Langsam dämmert es. Durch das offene Fenster hörst du lachende Stimmen vom gegenüberliegenden Balkon, die wirr mit den Geräuschen der Straße verschmelzen. Dein beharrlicher Blick liegt auf dem verweinten Gesicht eines Pop-Musikers, der in manischer Manier aus deinem Handy zu dir spricht. Zwischen seinen gequälten Schluchzern spricht er von einem pädophilen Netzwerk. Entmenschte Eliten vergewaltigen und foltern unschuldige Kinder, missbrauchen ihre Adern als Jungbrunnen. Sie fressen sie, laben sich an ihrem Blut, das sie verjüngt und belebt. Du beginnst selbst zu recherchieren und wirst fündig: Adrenochrome, ein Bild von Bill Clinton und Jeffrey Epstein, mysteriöse Codes in den geleakten Mails von John Podesta, pädophiler und satanistischer Symbolismus in den höchsten Rängen unserer Gesellschaft. Der Schauder prasselt dir wie heftiger Regen auf den Rücken. Alles hängt zusammen.

Langsam dämmert es dir und die lachenden Nachbarsstimmen wirken wie Hohn. Die Leute an der Uni, deine Eltern, deine Freunde – sie alle wurden getäuscht. Sie feiern die Kinderschänder von Pedowood und Washington. Niemand unternimmt etwas gegen sie, niemand glaubt dir. Verzweiflung und Ohnmacht bohren sich in dein Gewissen. Doch dann erinnerst du dich. Der Sturm wird kommen. Q hat einen Plan.

 

Köpfungen, Sex, und natürlich Pizza

Die Suche nach den Anfängen von QAnon führt uns in die Washingtoner Pizzeria „Comet Ping Pong“. Neben krossen Pizzen und Rucola-Salat, stehen dort auch Mädchen und Buben auf der Speisekarte – zumindest, wenn man der Verschwörungserzählung „Pizzagate“ Glauben schenkt. Diese vermutete nämlich die Existenz eines organisierten Netzwerks von pädophilen Kinderschändern und Menschenhändlern, welches sich im Keller des Restaurants einnistete.

 

© Farragutful / Wikimedia Commons

 

Grundlage für diese Annahme waren die kurz zuvor geleakten Mails von John Podesta, dem Kampagnenmanager von Hillary Clinton, die sich damals mitten im Wahlkampf befand und kurzerhand zur Anführerin dieses Zirkels des Bösen ernannt wurde. Anhänger von Pizzagate glauben, in der Korrespondenz zwischen Podesta und dem Restaurantbesitzer Alefantis geheime Code-Wörter für die Kommunikation zwischen Pädophilen entdeckt zu haben und konstatieren die vermeintliche Ähnlichkeit des Restaurantlogos mit satanistischer Symbolik. Seine Anfänge hatte Pizzagate auf dem News-Aggregator Reddit, genauer gesagt auf dem Subreddit /r/The_Donald, der sich der Unterstützung von Donald Trump verschrieb (Subreddits sind die thematischen Foren, in die Reddit sich gliedert). Der ursprüngliche Post wurde schnell gelöscht, woraufhin eine Zusammenfassung auf dem Subreddit /r/pizzagate erschien, die auf angeblich pädophile und kultische Symbole im Restaurant hinwies:

 

Everyone associated with the business [Comet Ping Pong] is making semi-overt, semi-tongue-in-cheek, and semi-sarcastic inferences towards sex with minors. The artists that work for and with the business also generate nothing but cultish imagery of disembodiment, blood, beheadings, sex, and of course pizza.

 

Nach kurzer Zeit griffen die Medien die Geschichte auf und schrieben sie als Humbug ab. Doch wie später auch QAnon, zeichnet sich Pizzagate durch eine dogmatische Medienskepsis aus. So kam es, dass sich ein Familienvater aus North Carolina dazu entschloss, der Sache selbst auf den Grund zu gehen und dem pädosexuellen Pizzazirkel den Belag wegzuschießen. Bewaffnet stürmte Edgar M. Welch das Gebäude, feuerte eine Kugel in die Luft und verließ das Restaurant wieder mit dem Wissen, dass es gar keinen Keller gab, in dem sich ein Netzwerk hätte einnisten können. Nach diesem enthüllenden Ereignis revidierten viele ihre Ansichten und entschuldigten sich bei den Besitzern. Und auch die sozialen Netzwerke und Imageboards distanzierten sich von der Theorie. „We don’t want witchhunts on our site” steht heute dort, wo früher der Subreddit /r/pizzagate zu finden war.

Trotzdem blieb Pizzagate eine steinofenheiße Angelegenheit. Heute noch glauben viele an die Existenz des pädokriminellen Netzwerks, wie die Kommentare unter Justin Biebers Song Yummy illustrieren. Einige bauten die Grundthese von Pizzagate aus und kamen zum Schluss, dass es eine pädophile Organisation geben müsse, die über die angenommenen Ausmaße von Pizzagate hinausgeht: eine Kabale von Eliten und Promis aus Washington und Hollywood, die im Hintergrund die Schicksale der Welt lenkt. Im Nährboden dieser Annahme entstand QAnon und machte – insbesondere durch den Einfluss ihres Anführers “Q” – aus einer einzelnen Verschwörungserzählung eine neue Religion.

 

Das Qlaubensbekenntnis

Im Oktober 2017 betrat ein Informant namens „Q“ die Bildschirmflächen und postete angeblich geheimes Insider-Wissen auf der Website 4Chan. Der Buchstabe Q ist eine Anspielung auf die Q-Freigabe des US-amerikanischen Energieministeriums, welche den Zugriff auf Staatsgeheimnisse ermöglicht, die Atomwaffen und Kernmaterial betreffen. Q suggeriert damit, dass er Einsicht in die wichtigsten Informationen der Nation habe und bereit sei, diese weiterzugeben. Zusammen mit der Abkürzung „Anon“ für Anonymous, entstand daraus der Begriff QAnon als Bezeichnung für die Anhängerschaft, die seine Informationen – genannt „QDrops“ – konsumiert und interpretiert.

 

Der erste QDrop, der fälschlicherweise die Festnahme Hillary Clintons prophezeite

Auf der Basis von Pizzagate entstanden die heutigen Grundprämissen von QAnon, die von der Mehrheit der Anhänger geteilt werden. Diese beinhalten die Annahme eines sogenannten „Deep State“, eines Staates im Staat, der die Regierung und die Medien kontrolliert und die Bevölkerung manipuliert. Viele glauben, dass dieser Deep State von Pädophilen und Satanisten gelenkt wird. Donald Trump wisse über diese Machenschaften Bescheid und habe sich wählen lassen, um ihnen ein Ende zu bereiten. Anhänger glauben, dass Trump mit dem Militär zusammenarbeitet, um eine Welle von Massenverhaftungen durchzuführen, die sie „The Storm“ nennen. Diese Meinungen werden dadurch gefestigt, dass Trump selbst – ob bewusst oder unbewusst – zuweilen QAnon-Vokabular verwendet, wie beispielsweise bei diesem hochrangigen Treffen von Militärs, wo Trump von einer „Ruhe vor dem Sturm“ sprach.

Die erwarteten Verhaftungen – deren Beginn Q bereits mit dem ersten QDrop angekündigt hatte – würden das Ende des Deep State markieren und seien die Folge des „Great Awakening“, des großen Erwachens, welches durch Q und seine Anhänger initiiert wird. Dieses Erwachen bedeutet einerseits das Aufkommen einer neuen Denkweise, die sich von vermeintlich verlogenen Massenmedien emanzipiere und andererseits die wachsende Erkenntnis, dass der Deep State an allem Schuld trage und dafür zu verurteilen sei. Dabei wird so gut wie alles, was auf der Welt schiefläuft, auf einige wenige angeblich abgrundtief böse Eliten zurückgeführt.

Durch die Bündelung dieser Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Wertungen, entstand eine neue Ideologie, die sich durch ein gemeinsames Bekenntnis zu einer Art Religion entwickeln konnte. Dabei nimmt QAnon teils prophetische und utopische Ausmaße an. Es ist ein in seinen Zielen optimistisches Glaubenssystem, welches davon ausgeht, dass sich die Welt bald zum Besseren wenden wird.

 

Tweet eines mittlerweile gelöschten Users; das Motto WWG1WGA steht für „Where We Go One, We Go All”

 

Mit solchen Prophezeiungen erinnert QAnon an den in vielen Religionen verbreiteten Millennialismus, also den Glauben an eine große, paradiesische Revolution des irdischen Lebens. Gleichzeitig ist QAnon aber auch apokalyptisch, befürchtet, dass die Dekadenz der Eliten zum Untergang führen könnte, wenn nicht schnell gehandelt wird. Für die Anhänger von QAnon geht es also um nicht weniger als um das Schicksal der Welt, um die Rettung der Menschheit vor ihrem moralischen Verfall. Aufgrund dieser religiösen Charakteristika, wäre es gut möglich, dass QAnon zu einer neuen Art von Glaubenslehre aufsteigt und sich als solche längerfristig etabliert. In einem Artikel in The Atlantic vergleicht Adrienne LaFrance QAnon mit christlichen Gruppierungen in den USA und erkennt Parallelen:

 

Does it matter that we do not know who Q is? The divine is always a mystery. Does it matter that basic aspects of Q’s teachings cannot be confirmed? The basic tenets of Christianity cannot be confirmed. Among the people of QAnon, faith remains absolute. True believers describe a feeling of rebirth, an irreversible arousal to existential knowledge. They are certain that a Great Awakening is coming.

 

Mittlerweile haben QAnons Anhänger eine ruchbare Reichweite, vor allem im Ursprungsland USA, wo es bereits Kongress-Kandidaten gibt, die QAnon offen unterstützen oder an Pizzagate glauben.

 

 

Genaue Mitgliederzahlen sind schwer zu ermitteln, allerdings macht sich der wachsende Einfluss entsprechender Mythen auch in Deutschland – dem Land mit den zweitmeisten QAnons – zunehmend bemerkbar, wie das Beispiel von Xavier Naidoo zeigt. Wie konnten solch halsbrecherische Hypothesen eine derart große Anhängerschaft generieren?

 

Das Erfolgsrezept – Eine Brise von Allem

Die Anziehungskraft von QAnon liegt in seiner Flexibilität und Vielseitigkeit. Anders als bei Pizzagate, geht es hier nicht mehr um eine einzelne Verschwörungserzählung, der man glauben oder nicht glauben kann, sondern um ein ganzes Konglomerat an solchen. Die Anhänger können somit selbst entscheiden, welchen Erzählungen sie wie viel Glauben schenken und welche davon ihnen am wichtigsten sind.

Manche stehen dabei in der Tradition von Pizzagate und fokussieren sich auf pädophile Weltverschwörungen oder betonen satanistische Vorlieben der globalen Elite. Dieses Erbe von Pizzagate bleibt einer der relevantesten und zentralsten Punkte von QAnon. Viele glauben dabei, dass die Kinder nicht nur vergewaltigt, sondern sogar gefressen werden. Ein Begriff, der immer wieder mit vermeintlichem Kinderkannibalismus in Verbindung gebracht, ist Adrenochrome. Diesem Stoffwechselprodukt wird eine verjüngende Wirkung nachgesagt, weshalb es von den Kindern extrahiert und getrunken würde. Jüngst gab es vermehrt Stimmen in sozialen Netzwerken, die bestimmten Personen Pädophilie oder Kindermord unterstellten. So war etwa #BillClintonIsAPedo ein vielverwendetes Twitter-Hashtag im diesjährigen Sommer. [Anm. d. Red. vom 09.11.20: Mittlerweile scheinen Beiträge, die mit diesem Hashtag versehen wurden, gelöscht worden zu sein. Allerdings finden sich noch immer derartige Beiträge unter dem ähnlichen Hashtag #BillClintonsAPedo.]

 

 

 

Zum Teil nehmen diese Anschuldigungen hexenjagdähnliche Zustände an. So postete ein User namens „qanonsociety“ häufig Videos der Fernsehpersönlichkeit Howie Mandel auf Instagram und versah sie mit Hashtags wie #pedogate oder #savethechildren. Häufig verschwinden solche User nach einer Weile wieder oder werden gesperrt, wie es auch bei „qanonsociety“ der Fall zu sein scheint. Doch neue Accounts sprießen ständig aus dem digitalen Boden, führen die Anschuldigungs-Rhetorik ihrer Vorgänger weiter und weiten den Kreis der Beschuldigten aus, wie der folgende Tweet veranschaulicht. Neben Bill Clinton wird hier eine Vielzahl von berühmten Persönlichkeiten des Kinderschändens bezichtigt – darunter Tom Hanks, Jimmy Kimmel und Oprah Winfrey, um nur ein paar zu nennen.

 

 

Neben diesem Aspekt von QAnon, lässt sich dort in letzter Zeit außerdem ein starker Fokus auf das Corona-Virus beobachten. In einem Post von „QAnon Austria“ wird beispielsweise Hydroxychloroquin als vermeintliches Heilmittel gegen Corona genannt.

 

Die rote Pille aus dem Kultfilm „Matrix“ steht symbolisch für eine oft bittere Wahrheit.

 

Viele sind der Ansicht, dass Covid-19 gezielt künstlich geschaffen worden sei oder dass ein funktionierendes Medikament vor der Bevölkerung verheimlicht werden würde. Das oftmals als „China Virus“ bezeichnete Virus sei geschaffen worden, um Donald Trumps Ruf zu zerstören und Joe Biden somit zum Sieg bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen zu verhelfen. China wolle nämlich die USA wirtschaftlich ausbeuten und dies sei unter Trump nicht möglich. Auch andere Gesundheitsmythen machten sich in QAnons Gemeinde breit. Unter den Mitgliedern findet man Impfgegner, die rhetorisch vor allem gegen Bill Gates vorgehen, esoterische Wundermittelsucher und 5G-Skeptiker.

Viele dieser Theorien lassen sich in spezifischen Fällen widerlegen und werden es auch meist durch mehrere Quellen, wie beispielsweise die Behauptung, dass Tom Hanks in Australien wegen Pädophilie verhaftet worden sei. Doch oftmals glauben QAnons, trotz widersprüchlicher Faktenlage, an das anfänglich Behauptete. Adrienne LaFrance schreibt in The Atlantic dazu:

 

[T]his is a very welcoming belief system, warm in its tolerance for contradiction.

 

Widersprüche werden durch die Annahme, dass Medien und Wissenschaftler systematisch Lügen verbreiten, für nichtig erklärt. Mit dem Kampf gegen die angeblich manipulativen Massenmedien wird der Kampf gegen das Böse für QAnon zum Zweifrontenkrieg.

 

„We are the news now“

Dieser „Information Warfare“, dieser Informationskrieg, ließ sich vor kurzem symptomatisch in Berlin beobachten. Am 1. August gab es dort eine Großdemonstration gegen die Corona-Maßnahmen, bei der auch QAnon-Anhänger anwesend waren und Videos vom Geschehen an ihre Telegram-Gruppen sendeten. Laut Polizei waren es etwa 17.000 Leute, aber in den Gruppen zeichnet sich ein anderes Bild ab. „80.000 Leute, die Medien schreiben sicher wieder nur 20.000“, schreibt dort ein Nutzer und ein anderer schätzt die Zahl sogar um ein Vielfaches höher: „ARD/NTV = 17.000 Demonstranten, Realität: 1,3 Millionen Menschen“. Zur Untermauerung dieser Thesen werden zweifelhafte Beweisfotos gepostet, die die Demo mit der Love Parade von 2001 vergleichen, dabei aber nur Ausschnitte von den damals etwa 1,2 Millionen starken Besuchermassen zeigen.

Im Informationskrieg gilt für QAnon das Motto „We are the news now”. Anhänger betonen dabei immer wieder, wie wichtig es sei, sich eine Meinung fernab von Mainstream-Medien zu bilden, auf eigenständige Recherche zu vertrauen und alternative Quellen zu verwenden.

 

So endet jede Nachricht im Telegram-Channel „QAnon Austria“

 

Gleichzeitig wird aber dogmatisch davon ausgegangen, dass Mainstream-Medien Teil des Zensurapparats sind, während dem anonymen Q sehr viel Vertrauen entgegengebracht wird. Obwohl sich schon einige von Q’s Prophezeiungen nicht bewahrheitet haben – wie die vermeintlich bevorstehende Verhaftung Hillary Clintons – bleibt der Glaube an ihn, sowie an seinen Plan und an „The Storm“ quasi unumstößlich. Wie passt das zusammen?

Wir haben einen Tiroler QAnon dazu befragt. Manuel F. [Name von der Redaktion geändert] steht offen zu Q, möchte aber aufgrund der Arbeit anonym bleiben. Auf die Frage, warum er glaube, dass die Massenmedien lügen, antwortet Manuel mit Gegenfragen: „Warum wird ‚freies Denken‘ lächerlich gemacht, herausgefordert und bedroht, wenn eine Person gegen die ‚Mainstream-Erzählung‘  ist?“ Er konstatiert, dass der Mainstream verwendet wird, um „einen dominierenden Meinungstrend zu erzeugen. Wenn die Mehrheit der Menschen ‘x’ glaubt, dann muss ‘x’ validiert/wahr sein.“ Damit seien die Medien fähig, Leute und ihre Meinungen zu beeinflussen und zu kontrollieren. Dies sei aber problematisch, da ein großer Teil der Mainstream-Medien im Besitz von großen Konzernen oder einflussreichen politikernahen Personen – wie etwa Rene Benko – sei.

Doch warum sollten dann Informationen von Q – welcher der Politik ebenfalls sehr nahe steht – für bare Münze genommen werden? Manuel bezeichnet Q als „einen wichtigen Hintergrundkanal und die größte militärische Geheimdienstoperation der Geschichte“. Für bare Münze würden seine Informationen allerdings nicht genommen, da Q zum Großteil Fragen stelle und zum Nachdenken anrege, anstatt fertige Antworten zu liefern. Q’s Falschmeldungen seien bewusst gesetzt worden, „um den Feind in die Irre zu führen“ und dementsprechend nicht an die QAnons adressiert gewesen. Manuel F. fasst die Rolle des Informanten zusammen: „Q ist kryptisch, smart, subtil und bietet Anhaltspunkte, die um Kontext und Verbindung bitten“. Werfen wir einen genaueren Blick auf diesen angeblichen Fragenmeister.

 

Q der Profipsychologe

Das Konzept von anonymen Informanten, die sich auf Imageboards äußern, ist nicht neu, aber keiner konnte bisher eine so große Gefolgschaft generieren wie Q. Das Times Magazine zählte ihn 2018 sogar zu den 25 einflussreichsten Internetpersönlichkeiten des Jahres. Um die Identität von Q ranken sich viele Mythen. Er sei Trump selbst, Michael Flynn, Dan Scavino oder gar John F. Kennedy Jr., der seinen Tod gefälscht hat, um im entscheidenden Moment wieder in Erscheinung zu treten und Trump im Kampf gegen die Kabale zu unterstützen. Es steht noch nicht einmal fest, ob Q eine Einzelperson oder eine Personengruppe ist. Wie kann eine so mysteriöse Persönlichkeit eine so große Reichweite haben? Das Geheimnis liegt in seiner Rätselhaftigkeit. Nachdem sich anfängliche Prognosen als falsch erwiesen hatten, änderte Q nämlich seine Strategie und die QDrops wurden kryptischer.

 

Beispiele von Q’s kryptischen QDrops von der Website qanon.pub

 

Die mittlerweile 4.620 (Stand 13.08.20) tweet-ähnlichen Beiträge sind voller Abkürzungen, Parolen und Rätsel. Dadurch gibt Q seinen Lesern das Gefühl, eigenständig zu denken und dass der Preis seiner Rätselspiele nichts Geringeres ist, als die Wahrheit selbst. „Q never asks anybody to believe anything“, schwärmt eine Anhängerin auf Youtube, „he wants people to go out there and do their own research”. Dadurch sehen sich die QAnons als Gäste in einem streng geheimen Informationspalast, als Mitarbeiter und Forschende in den höchsten militärischen Rängen. Einige haben es sich zur Aufgabe gemacht, Ordnung und Sinn in diesen Informationspalast zu bringen, damit sich andere besser darin zurechtfinden, wie etwa der Twitter-User „prayingmedic“. „Researchers“ wie er sammeln und interpretieren QDrops, die auch als „Brotkrümel“ bezeichnet werden, und haben sich damit den passenden Spitznamen „Bäcker“ eingeholt. Mittlerweile gibt es hunderte von solchen Bäckern, die Echos von Q’s Worten in die digitale Welt schicken und in einem großen QAnon-Kanon erklingen lassen.

Jene, die ihren Rufen und den Brotkrümeln folgen, finden wie Hänsel und Gretel zur grausamen Erkenntnis, dass im tiefen Dunkel Kinderfresser lauern. Mit der Annahme eines pädophilen Systems knüpft Q dabei an ureigene elterliche und menschliche Instinkte und Ängste an. Es ist die Furcht, unschuldige Kinder auf die schlimmste Weise zu verlieren und die Angst vor der Ohnmacht im Angesicht einer großen Organisation des Bösen, die die Gesellschaft in ihren Fängen hält. Nur als Gemeinschaft sei es möglich, diesem Feind Einhalt zu gebieten. QAnon gibt seinen Anhängern das Gefühl, einem moralisch guten Kollektiv anzugehören, sich auf die richtige Seite gestellt zu haben. Dieser Dichotomie liegt jedoch die Annahme zugrunde, dass die Welt in gute und böse Menschen eingeteilt werden kann. [Anm. d. Red. vom 09.11.20: Auf qmap.pub – einer der größten Websites von QAnon, wo QDrops gelistet und kontextualisiert wurden – fand sich eine solche Kategorisierung, bevor der Betreiber im September identifiziert wurde und die Website daraufhin offline ging.]

 

Bei QAnon wird die Menschheit in Gut und Böse kategorisiert. Quelle: qmap.pub

 

Q macht die Welt verständlich, simplifiziert sie für seine Anhänger. In seiner Welt sind Menschen entweder „patriotisch“ oder „böse“, oder aber sie sind vom Weg abgekommen und werden als „pawns“ von den Bösen kontrolliert. Nur wenn sich die Patrioten gegen fehlgeleitete und böse Menschen durchsetzen, kann sich alles zum Guten wenden und der prophezeite Sieg sich in epochalen Ausmaßen bewahrheiten. Das Gefühl, Teil von etwas Wichtigem und Großem zu sein, schweißt die Gemeinschaft zusammen, wie ihr Motto WWG1WGA („Where we go one, we go all“) zeigt. Manuel F. beschreibt, was dieser Satz für ihn bedeutet:

 

„Where we go one, we go all“ hat für mich eine große und gleichzeitig wunderschöne Bedeutung. Es geht nicht nach Rasse, es geht nicht nach Religion, es geht nicht nach Kultur, es geht nicht nach Klasse, es geht nicht nach politischer Zugehörigkeit, es geht nicht um eine Person oder eine Gruppe/Bewegung. Es geht in erster Linie um die Menschen und die Menschlichkeit. Um dich und um mich. Gemeinsam sind wir stark und können etwas bewegen. Frei nach dem Motto: Einer für alle und alle für einen.

 

Diese inklusive Gruppendynamik hat aber auch zur Folge, dass Menschen immer tiefer in die Sache hineingezogen werden. Wer tatsächlich fest davon überzeugt ist, dass es eine Verschwörung der Kinderfresser gibt, kann wohl nicht untätig dabei zusehen, wie diese damit davonkommt. Im schlimmsten Falle würden manche auch nicht davor zurückschrecken, Gewalt anzuwenden, um ihr Einhalt zu gebieten, wie das Beispiel von Edgar M. Welch im Comet Ping Pong zeigte. Das FBI warnte bereits vor möglichen Gewalttaten und bezeichnete QAnon als „domestic terror threat“. So weit muss es nicht kommen, andere Negativeffekte sind aber nicht von der Hand zu weisen. Leute, die sich QAnon verschreiben, riskieren oft ihren Arbeitsplatz, verlieren ihren Zugang zu Freunden und Familie. Manche Mitglieder werden in die Einsamkeit getrieben, fühlen sich missverstanden, angelogen und verzweifelt. Doch wie in jeder guten Geschichte, müssen die Helden Opfer bringen, tragen die schwere Wahrheit in die Welt und erhalten im Gegenzug Halt und Hoffnung.

 

Du nimmst noch einen Schluck Wasser und setzt dich in deine Recherche-Sitzecke zwischen Bücher und Kissen. An der Wand hängen Fotos und Zeitungsschnipsel, die in einem spinnennetzartigen Geflecht von Stecknadel und Faden miteinander verbunden sind. Seit deinem „Great Awakening“ sind bereits einige Monate vergangen. Du bist umgezogen. Seit du zum Bäcker wurdest, lebst du allein. Das ist schade, aber der Kampf gegen das Böse ist zu wichtig, um Rücksicht auf persönliche Bedürfnisse zu legen. Immerhin muss ein Schattenkrieg mit biblischen Proportionen gewonnen werden und es gibt viel zu tun. Du atmest tief ein, legst dir deine Notizen zurecht und machst die Kamera an: „Der Sturm wird kommen. Q hat einen Plan.“

 

 

 

 

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